Winterreise

Veröffentlicht von Christian Holst am

Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören.

Rilkes Zeilen aus der ersten Duineser Elegie klingen, auf eine künstlerische Darbietung bezogen, erstmal nicht nach einem Lob. Aber eigentlich kann man einem Künstler kein größeres machen. Die Worte beschreiben für mich die perfekte Kunsterfahrung und geben eine Definition von Schönheit, die so pointiert wie vollständig ist. Ich musste an sie denken, als ich kürzlich in einem kleinen Schulsaal saß und Schuberts Winterreise hörte. Ich war mit keinen allzu grossen Erwartungen an das Kulturprogramm der Zürcher Vorstadt zu diesem Liederabend gegangen und umso mehr gefangen von der grossartigen Darbietung von Marret Winger (Sopran) und Steffen Hartmann (Klavier).

Hartmann sagte in einer kurzen Erläuterung zu Beginn des Konzerts, dass Schubert das Gefühl der Fremdheit, das viele Menschen in unserer Zeit erleben würden, vorausgeahnt und antizipiert hätte. Mit ihrer Interpretation machten Winger und Hartmann allerdings deutlich, dass Schuberts und Müllers Werk weit über ein epochenspezifisches Lebensgefühl hinausgeht und vielmehr eine zeitlose menschliche Urangst beschreibt: Die Angst, allein zu sein, nicht gewollt zu sein, die Angst vor Sinnlosigkeit, die so tief geht, dass der Tod zur verlockenden Option wird. Zugleich zeigten sie, wie stark es sich bei der Winterreise um Zukunftsmusik handelt, wie viel Schubert hier in musikalischer Hinsicht vorausgeahnt hat, so modern, brüchig und «mahlerisch» klang manche Stelle an diesem Abend. Denn wie später Mahler entwickelt auch Schubert aus der scheinbar unverfänglichen Form des Liedes abgründige Dramen, deren Erschütterungsfaktor Rilkes Schönheitsdefinition voll und ganz entspricht.

Im kleinen Rahmen mit ca. 40 Konzertbesuchern hat so ein Liederabend eine beklemmende Intensität. In etwa so, als würde jemand bei einem im Wohnzimmer anfangen zu singen, was fraglos eine Zumutung wäre. Und in einem guten, nicht ganz so überrumpelnden Sinne ist es das auch noch in so einem intimen Konzertrahmen, wo die Künstler und Publikum ohne trennenden Bühnenabsatz oder gar Graben auf einander treffen. Es ist ein bisschen so, als würde man im Zoo direkt ins Raubtiergehege gehen und nach dem Motto «Die haben mindestens so viel Angst vor dir, wie du vor ihnen» hoffen, das nichts passiert. Und auch wenn nichts passiert, dann wundert es einen nach einem solchen Konzert nicht, dass Schuberts Freunde verstört reagierten als er ihnen – sich selbst am Klavier begleitend – die Lieder erstmals vorspielte. Auch hier greift das Rilke-Zitat.

Im Nachklang des Konzerts hörte ich auf spotify in verschiedene Interpretationen rein. Eine, die mich total faszinierte, ist die Aufnahme von Nataša Mirkovic De Ro und Matthias Loibner. Loibner begleitet die Sängerin, die mit wunderbar unprätentiöser und zurückgenommener Stimme singt, mit Drehleier. Dieses gebrechliche, schnarrende, klappernde, in jeder Hinsicht unzulängliche Instrument verstärkt noch einmal das Brüchige, Spröde dieses Liederzyklusses.


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