Co-Creation: Kulturtempel als Selbstbedienungsläden

Veröffentlicht von Christian Holst am

Einen Tag vor der Eröffnung der Bayreuther Festspiele 2015 wurde der erste Tweet im frisch eröffneten Twitter-Account @BayreuthFest veröffentlicht:

Morgen gehen die Bayreuther Festspiele los. Dieses Jahr wagen wir den Schritt weiter in den neuen Medien: Hallo Twitter!— BayreutherFestspiele (@BayreuthFest) 24. Juli 2015

Die Komische Oper Berlin, die selbst schon seit längerer Zeit auf Twitter aktiv war, begrüßte die Festspiele und wünschte viel Erfolg. Die Süddeutsche Zeitung, der Bayerische Rundfunk, ZEIT online und andere erwähnten den Account und griffen die dort verwendeten Hashtags für die eigene Berichterstattung auf. Auch bei Wagner-Fans fand der Account sofort Anklang: Zwei Tage nach dem ersten Tweet zählte @BayreuthFest bereits 500 Follower, am Ende des Festspielsommers waren es 1.500.

In dem Kanal wurde gepostet, was Kultureinrichtungen auf Twitter so posten: Es gab Verweise auf die Facebook-Meldungen der Festspiele ebenso wie auf fremde Berichterstattung, es wurden Fragen von Besuchern und Wagner-Fans beantwortet. Darüber hinaus wurden verschiedene Aktionen lanciert, bei denen die Follower beispielsweise unter dem Hashtag #BFQuote ihre Lieblingszitate aus Wagner-Opern nennen oder unter dem Hashtag #WhyILoveWagner sagen sollten, was ihnen an Wagners Werken besonders gefällt. – Es schien sich um einen ganz normalen, professionell geführten Twitter-Account zu handeln – bis jemand in der Pressestelle der Bayreuther Festspiele anrief und nachfragte, wer für den Account zuständig sei. Es stellte sich heraus: Wer auch immer es war, es war niemand, der im Auftrag der Festspiele handelte. @BayreuthFest war ein Fake-Account.

Dieser Streich der Blogger von Musik mit allem und viel scharf ist ein schönes Beispiel für die Selbstermächtigung der Kulturfans, die durch digitale Mittel auf einmal möglich wird. Kulturelle Angebote und Marken unterstehen nicht mehr der Deutungshoheit der Einrichtungen. Sie werden mehr und mehr in Prozessen ausgehandelt sind, die offen sind, die nicht mehr durch eine Seite kontrollierbar sind, sondern in die andere Personen jederzeit eingreifen können und die von verschiedenen Akteuren mitgestaltet werden.

Co-Creation: Der Nutzer macht die Arbeit

Ein Begriff, mit dem solche Phänomene beschrieben werden können, ist Co-Creation. Co-Creation wird in der Regel als Managementansatz verstanden, bei dem Kunden in den Prozess der Produkterstellung oder Produktgestaltung mit einbezogen werden (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon). Berühmte Beispiele dafür sind Ikea-Möbel, bei denen der Kunde Transport und Aufbau übernimmt oder in die Produktentwicklung einbezogen wird wie z.B. bei Migipedia, wo Kunden der Schweizer Migros Produkte mitentwickeln können. Das Verständnis hat sich allerdings über eine ursprünglich rein produktbezogene Sichtweise hinaus erweitert:  Gerade auch bei Dienstleistungen sind Nutzer – oder im Falle von Kultureinrichtungen «Besucher» – keine passiven Konsumenten, sondern oftmals auch aktiv in den Wertschöpfungsprozess einbezogen.

Wie man an dem IKEA-Beispiel sehen kann, gab es Co-Creation lange vor der Digitalisierung. Auch im Kulturbereich ist das Phänomen Co-Creation keinesfalls neu. In den Performing Arts galt es schon immer: Eine Aufführung ohne Publikum ist nur eine Probe. Und auch wenn Publikum da ist, hängt die Qualität einer Aufführung immer auch entscheidend vom Publikum ab. In Theater und Konzert haben sich daher zahlreiche Rituale und Kontrollmechanismen wie die «vierte Wand» entwickelt, die dazu dienten, die Integration des externen Faktors «Publikum» möglichst störungsfrei zu ermöglichen. Diese Mechanismen stehen heute aber zunehmend in der Kritik (s. z.B. hier oder hier) und kommen vielen Besuchern oftmals anachronistisch vor. Darüber hinaus sorgt die Digitalisierung dafür, dass die Möglichkeiten für Co-Creation förmlich explodieren und Kommunikation wie auch das Kunsterlebnis selbst verändern und innovieren. Der Bayreuth-Fake ist ein Beispiel dafür, wie die digitalen Medien den Kulturfans neue, bisher ungekannte Möglichkeiten an die Hand geben, die eine Kontrolle nochmals erschweren. Co-Creation passiert einfach, ob eine Einrichtung das nun will oder nicht.

Bei Co-Creation werden drei verschiedene Formen der Interaktion unterschieden:

1. Passive Mitwirkung. Hierbei ist der Kunde oder Besucher nur Beobachtungsobjekt. Gerade für die Kundenbeobachtung hat die Digitalisierung enorme neue Möglichkeiten eröffnet, weil sämtliche digitalen Interaktionen, zu welchem Zweck auch immer sie getätigt werden, zugleich zur Marktforschung und zur Weiterentwicklung und Verbesserung eines Angebots genutzt werden können. Mit der Nutzung eines digitalen Services, z.B. Online-Ticketkauf, werden nicht nur Daten abgerufen, sondern jedes Mal auch neue Daten in die Datenbanken zurück gespeist. Je mehr Daten verfügbar sind, umso präzisere Rückschluss sind möglich. Die Managementherausforderung besteht hierbei darin, die Interaktionen mit dem Besucher, von der Aufmerksamkeitsgewinnung über die Kaufhandlung bis zum Feedback zu digitalisieren und die generierten Daten zu entscheidungsrelevanten Informationen zu verdichten. 

2. Aktive Mitwirkung. Das heißt, der Kunde entscheidet mit, wie seine Dienstleistung am Ende aussieht. Man kennt dieses Prinzip z.B. aus der Systemgastronomie, wo man nicht einfach einen Burger oder einen Kaffee bestellt, sondern noch zig Zusatzfragen beantworten muss zu Größe, Extras usw. In einem standardisierten Rahmen ist dann ein individualisiertes Produkt möglich. Im Kulturbereich fallen Audioguides oder Apps in diese Kategorie, mittels derer Führungen möglich werden, die auf persönliche Präferenzen abgestimmt sind. Diese Form der Co-Creation steht immer da offen, wo standardisierbare Alternativen vorgegeben werden können.

3. Aktive Partizipation. Bei dieser Form von Co-Creation kann der Besucher aktiv eigene Ideen einbringen und das Angebot aktiv beeinflussen. Im Kulturbereich ist das bislang noch recht wenig anzutreffen, was auch damit zu tun haben dürfte, dass vielerorts altes Repertoire und alte Kulturgüter gepflegt werden. Das Thalia-Theater unternahm vor einigen Jahren einen Versuch, über den Spielplan abstimmen zu lassen. Die Idee scheiterte. Ein Grund für die geringere Verbreitung dieser Form dürfte auch sein, dass oftmals traditionelles Repertoire gespielt wird. Neue Werke, die Co-Creation von vornherein vorsehen, sind noch selten. Ein Beispiel sind die Geek bagatuelles, eine Komposition für Orchester und Smartphone Apps des französischen Komponisten Bernard Cavanna. Diese Form der Co-Creation braucht gezielte Weiterentwicklung des Repertoires und daher ein grundlegendes Umdenken .

Teaser zu den Geek bagatuelles von Bernard Cavanna (auf franz.)

Ständiger Wandel als neue Management-Routine

Das heißt, nicht nur Kulturnutzer haben durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten, auch die Einrichtungen haben ganz neue Möglichkeiten, Besucher einzubeziehen, anzusprechen, neues Publikum zu erreichen usw. Die Frage ist: Wenn ko-kreative Phänomene rund um die Kultur aufgrund der Digitalisierung explodieren und nicht verhindert werden können und sollen, wie kann Co-Creation dann gefördert und gesteuert werden im Sinne der Ziele einer Einrichtung? Wie kann sie produktiv und integrativ eingesetzt werden im Sinne des kulturellen Auftrags?Wie am Beispiel des Bayreuth-Hacks zu sehen war, haben ko-kreative Prozesse eine hohe Eigendynamik, was aus klassischer Managementsicht erstmal ein Albtraum ist, da Management in diesem Verständnis das Ziel hat, Kontrolle über Prozesse zu halten und Stabilität herzustellen. Dieses Verständnis wird in Bezug auf Co-Creation kaum funktionieren.

Prahalad und Ramaswamy, die den Co-Creation-Gedanken in die wirtschaftswissenschaftliche Debatte eingebracht haben, schlagen vor, zum «Management von Erfahrungsfeldern»  überzugehen. Dabei geht es darum, eine «konsistente(…) Qualität der ko-kreativen Erfahrung über mehrere Kanäle und mehrere Ereignisse innerhalb des Erfahrungsumfelds» zu ermöglichen. «Die Erfahrung ist die Marke» (S. 315).

Payne et al. (2008) konkretisieren diese Aussage in einem Managementmodell. In diesem Modell geht es auf operativer Ebene darum, im Sinne eines Relationship Experience Design an ausgewählten Punkten im Kunden- bzw. Besucherkontakt konkrete Möglichkeiten für Co-Creation zu schaffen. Das umfasst jeweils die Entwicklung neuer Ideen, das Entwickeln von Prototypen und ggf. die Implementierung in die reguläre Angebotspalette. Dieser Ansatz deckt sich mit dem allgemeinen Trend, (insbesondere digitale) Projekte mit agilen Methoden zu entwickeln und zu erproben, mit denen zwar ein Rahmen vorgegeben wird, aber jederzeit auf Veränderungen und Probleme reagiert werden kann. Auf der strategischen Ebene fordert das Modell, eine Kultur des organisationalen Lernens zu etablieren. Dieser Vorschlag wiederum deckt sich mit der Forderung von Armin Klein, den modernen Kulturbetrieb als lernende Organisation zu verstehen und auszurichten. Anders als im traditionellen Managementverständnis ist der Wandel hier nicht der Sonderfall, der von Spezialisten begleitet werden muss, sondern der Normalfall, der von den Mitarbeitern selbst gestaltet wird (S. 129ff.). Ständiger Wandel ist sozusagen die neue Routine.

Byebye angebotsorientierte Denkweise

Co-Creation setzt daneben aber auch voraus, dass Kultureinrichtungen sich von der angebotszentrierten Denkweise verabschieden, die immer noch gepflegt und kultiviert wird, obwohl sie oftmals nicht mehr funktional ist. Durch die Digitalisierung ist es nicht mehr möglich, alles ausschließlich von der Kunst her zu denken, alles aus einem Status des Expertentums zu definieren und dabei die Kunst gegenüber Ansprüchen und Einflüssen von anderen abzuschotten. Die Digitalisierung macht die Kulturtempel sozusagen zu Selbstbedienungsläden. Das Beispiel des Bayreuthfakes zeigt das anhand einer Kulturmarke, aber es gilt entsprechend für die Kunst selbst. Je mehr die Digitalisierung unseren Alltag durchdringen wird und Kulturkommunikation und -produktion beeinflusst, umso seltener wird Kunst etwas sein, was ein einzelnes Genie hervorgebracht hat. Kunst wird immer mehr in interaktiven, offenen Prozessen entstehen, an denen viele verschiedene Menschen und Gruppen beteiligt sind. Ko-kreative Prozesse sind nicht zwingend digitale Prozesse, so wie digitale Prozesse nicht zwingend ko-kreativ sind. Aber die Digitalisierung vereinfacht ko-kreative Prozesse und befeuert diese Entwicklung ungemein. Da Kunst keinen absoluten Wert an sich darstellt, sondern immer nur in konkreten sozialen Zusammenhängen Sinn entfalten kann, glaube ich aber, dass das keine Entwicklung gegen die ureigenen Interessen der Kunst ist, wie man in einem klassischen Verständnis und auf den ersten Blick denken könnte. Es ist eine Entwicklung im Sinne der Kunst, weil sie sie allgegenwärtiger,  zugänglicher und vielgestaltiger macht. Und außerdem: Wir können es uns eh nicht mehr aussuchen. So oder so sollten wir also das beste draus machen!

P.S.: Ich habe die Kommentare nicht mehr freigeschaltet, da es mir mit dem aktuell verwendeten Theme nicht gelungen ist, sie DSGVO-konform zu ermöglichen. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass eh eher bei der Verlinkungen in meiner Facebook-Chronik diskutiert wird. Also, wenn ihr etwas zu diesem Beitrag sagen möchtet, macht das doch am besten auf Facebook.