Im Hamburger Abendblatt las ich zu Silvester, dass 72 Prozent der Hamburger glauben, dass es im neuen Jahr aufwärts gehen werde. Auch die Wirtschaft ist optimistisch. Keine Spur von Angst vor Neuem oder dem «Früher war alles besser»-Syndrom, zumindest nicht, wenn es um Jahre geht. Das ist etwas anders bei Musik. Heerscharen von Musikpädogogen und Evangelisten zeitgenössischer Tonkunst haben die Neue Musik kaum je aus ihrer durchaus behaglichen, mitunter dünkelhaft verteidigten Nische zu holen vermocht. Da der Ruhm einiger bedeutender Komponisten erst nach einer längeren Inkubationszeit ausbrach, ging auch Arnold Schoenberg Anfang des 20. Jahrhunderts davon aus, dass man seine Musik in einigen Jahrzehnten ganz selbstverständlich auf der Straße pfeifen werde. Diese Prophezeiung hat sich nicht erfüllt.
In einem ausführlichen, sehr lesenswerten Artikel in der Zeit (schon etwas älter) werden dafür im Wesentlichen zwei Gründe genannt. Das eine ist das Vergnügen, in dem Gehörten wiederkehrende Strukturen auszumachen, ohne dass diese erklärt würden. Kinder lernen auf diese Weise Sprache. Dies ist bei Neuer Musik nur schwer möglich. Die Regeln der Zwölftontechnik in einem Stück auszumachen, gleiche etwa «dem Kunststück, sich eine zwölfstellige Telefonnummer nicht nur auf der Stelle zu merken, sondern sie auch noch wiederzuerkennen, nachdem zu jeder Ziffer vier hinzuaddiert wurden.» Das setzt natürlich ein langjähriges intensives Training voraus, dem sich nur hartgesottene Liebhaber unterziehen. In Klangcollagen oder gar stochastischer Musik ist es freilich noch schwerer Strukturen zu erkennen.
Das andere ist das Spiel mit der Erfüllung oder Enttäuschung von Erwartungen. Beides muss – je nach Hörerfahrung – in einer bestimmten Relation zueinander vorhanden sein, damit das Hörerlebnis ein Vergnügen ist. Vollkommene Erfüllung von Hörerwartungen ist so langweilig wie die dauernde Enttäuschung frustrierend ist. Wie so gerne, wenn es um die Erklärung menschlicher Vorlieben und Verhaltensweisen geht, bemüht der Artikel auch hier das vorzivilisatorische Leben. Zu Zeiten des Säbelzahntigers sei es überlebenswichtig gewesen, von der Gegenwart auf die Zukunft schließen zu können und zum Beispiel verdächtige Geräusche rechtzeitig richtig zu deuten, um nicht zum Mittagessen des hungrigen Raubtiers zu werden. So entwickelte der Mensch einen «Zukunftssinn», der auch bei Musik angesprochen wird und uns in Erregung versetzt.
Wenn es dann in dem Artikel resümierend heißt: «In ihrem ständigen Streben nach Innovation, nach neuen Klängen hängen die Komponisten das breite Publikum ab – eine seltsame Eigenheit der westlichen klassischen Musik», dann ist damit wieder das im vorangegangen Beitrag zitierte Innovator’s Dilemma angesprochen. Die Innovation wird – einer bestimmten, festen Logik folgend – immer weiter vorangetrieben und verfehlt schließlich die Bedürfnisse des Marktes bzw. die Ansprüche eines breiten Publikums. Und obwohl ich öffentliche Finanzierung von Kultur grundsätzlich richtig und sinnvoll finde, eben um der Kunst bzw. Musik freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren, halte ich sie in Bezug auf dieses Problem für fragwürdig. Denn sie läuft hier Gefahr, Innovationslogiken künstlich am Leben zu erhalten, die ihre Zeit hatten und verhindert es zu überprüfen, ob sich die Leute mit echt neuer Musik schwer tun würden.
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