Christian Holst

Kulturmanagement :: Kulturmarketing :: Digitale Transformation


Kategorie: Musik

  • Leadership im Kulturbetrieb – Wie es nicht geht

    Während vergangene Woche in Hamburg bei der Jahrestagung des Fachverbands Kulturmanagement über Leadership und Innovation diskutiert wurde, eskalierte eine Auseinandersetzung, die als Paradebeispiel dienen kann, wie man es in Bezug auf beide Themen nicht machen sollte. Was war passiert? Der Komponist und Dramaturg Arno Lücker und die Komponistin Carlotta Joachim hatten einen sog. Shred über den Geiger Daniel Hope erstellt, was der offenbar gar nicht lustig fand. Das Konzerthaus Berlin, wo Hope viel spielt und Lücker eine Konzertreihe betreut, beendete daraufhin die Zusammenarbeit mit Lücker. Hopes Label Deutsche Grammophon versuchte offenbar, die Neue Musik Zeitung, für die Lücker schreibt, zur gleichen Maßnahme zu bewegen. Die vollständige Geschichte kann man u.a. im Bad Blog of Musick und auch im Blog hundert11 (in mehreren Artikeln und mit zahlreichen Links zu weiteren Quellen) nachlesen. Das Ganze eskalierte  schnell und gründlich, so dass irgendwann sogar die Times, die New York Times, Forbes und Alex Ross vom New Yorker darüber berichteten. Albrecht Selge (hunder11) bezeichnete den Fall und insbesondere den Rauswurf Lückers durch das Konzerthaus Berlin treffend als ein Paradebeispiel für Führungsversagen im Kultursektor. (mehr …)

  • PR-Gag «Opernhaus des Jahres»

    Auf der Website Opernnetz hat deren Chefredakteur Michael Zerban einen Kommentar verfasst, in dem er mit die jährliche Kritikerumfrage der Opernwelt und die daraus resultierenden Auszeichnung von Opernhaus, Sänger, Regisseur etc. des Jahres auseinander nimmt. In seinen Augen handelt es sich um einen PR-Gag eines kleinen Fachmagazins:

    Die Opernwelt existiert seit 1960 und hat ihre besten Zeiten längst gesehen. Heute vegetiert sie nach eigenen Angaben mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren monatlich dahin – nicht IVW-geprüft, Tendenz fallend. (…) Aber einmal im Jahr ist ihr Name in vieler Munde. Nämlich dann, wenn sie unter anderem das «Opernhaus des Jahres» kürt.

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  • Vier tote, weiße Männer füllen die Konzertsäle

    Ein Viertel aller Stücke, die die großen US-Orchester ins Programm nehmen, stammen von nur vier Komponisten, berichtet Norman Lebrecht. Eine kleine Handvoll toter weißer Männer, nämlich Mozart, Beethoven, Brahms und Tschaikowsky. «And you wonder why people have stopped going», schlussfolgert Lebrecht aus dieser «schockierenden Statistik» lakonisch. Offenbar sitzt er auch dem zur Zeit um sich greifenden Glauben auf, dass ethnische, soziale, geschlechtliche Vielfalt per se (musikalische) Qualität und ein begeistertes, treues Publikum bedeutet. Nähere Begründung, warum das so sein sollte? Fehlanzeige. Es kann also genauso gut sein – mir persönlich erscheint das auch wesentlich wahrscheinlicher -, dass es diesen vier toten weißen Männern zu verdanken ist, dass überhaupt noch Leute ins Konzert gehen. (Plakativ gesprochen.) Sofia Gubaidulina beispielsweise ist eine weiße, lebende Frau und großartige Komponistin aber nicht gerade bekannt dafür, dass die Leute ihrer Werke wegen scharenweise in die Konzertsäle strömen würden. Das kann man schade finden, ist aber eine Tatsache, mit der die Orchester umgehen müssen.

  • Musiker als Unternehmer

    Aktuell gibt es beim VAN-Magazin einen sehr ausführlichen, lesenswerten Kommentar von der Komponistin Emily Doolittle zum Thema «Komponisten als Entrepreneure».

    Der Kommentar basiert auf der altbekannten Prämisse, dass Kunst nichts müssen soll und folglich Kunst und ökonomische Zweckorientierung nicht zusammenpassen. So weit, so richtig, die Frage scheint mir hier zu sein, wie der Begriff Unternehmertum verstanden wird. Wenn er Vorschub leisten soll, das Dasein von Künstlern laufend zu prekarisieren und die sozialen Risiken dieses Daseins zu privatisieren, wenn er meint, Kunst müsse gezielt an Marktbedürfnissen oder gar Renditeaussichten ausgerichtet werden, dann lehne ich ihn auch ab.

    Aber ich verstehe den Begriff nicht so. Nicht im Kultursektor und auch in Bezug auf andere Bereiche nicht. Unternehmerisch zu arbeiten heißt in meinem Verständnis vor allem, initiativ zu sein, Möglichkeiten zu suchen und zu finden, gestaltend zu arbeiten – unabhängig davon, was man gestaltet. Das können Produkte sein, soziale Strukturen, ein Geschäftsmodell, Farben, Töne oder was auch immer. In diesem Sinne arbeitet ein Unternehmer immer ins Ungewisse hinein und muss immer Kreativität und eine gewisse Risikobereitschaft mitbringen. Der Software-Entwickler wie der Künstler. Mit dem Unterschied, dass der Software-Entwickler bessere Aussichten hat, für seine Risikobereitschaft eines Tages finanziell belohnt zu werden. Aber zunächst einmal setzt Unternehmertum immer auch eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit voraus, weil man die Früchte seiner Arbeit – seien sie materieller oder immaterieller Art – immer erst später ernten kann. Insofern gebe ich Doolittle dann doch wieder recht, wenn sie schreibt:

    Wir brauchen Stiftungen und Töpfe, die auf der Basis unterstützen, was wir versuchen, nicht, was wir versprechen zu produzieren. Wir brauchen die Freiheit, auch Musik zu schreiben, von der das Publikum noch nicht weiß, dass es sie will. Wir brauchen ein soziales System, dass es uns ermöglicht, lang genug nicht über Geld nachzudenken, um etwas zu erschaffen. Und wir müssen die Möglichkeit haben, zu experimentieren, ohne uns zu sorgen, dass das Ausbleiben eines kommerziellen Erfolgs im finanziellen Ruin mündet.

  • Tablets statt Notenständer

    Norman Lebrecht berichtet, wie Tablets die klassischen Papiernoten ersetzen. Ist vielleicht praktisch, wenn nicht mehr alle Striche, Notizen und Korrekturen von Hand eingetragen werden müssen, sondern mit einer Änderung für alle Musiker einer Gruppe verfügbar sind. Umblättern geht per Pedal, ohne Geraschel und ohne Hektik. Und wenn sich die Tablets erstmal etabliert haben, kann der Dirigent eigentlich zu Hause bleiben und von dort kann er vor einer Kamera dirigieren, die ihn auf die Tablets überträgt. Wäre gut für’s Klima, schlecht für die Fluggesellschaften. 😉

  • Warum der Klassikbetrieb keinen Geschlechterkampf braucht

    Susanne Küblers Kritiken zu den Produktionen am Opernhaus Zürich habe ich nicht immer geteilt, fand sie aber immer fair und nachvollziehbar. Gleiches gilt für ihre kulturpolitischen Statements. Umso mehr wundert mich ihr aktueller Artikel über die angeblich ausbaufähige Gleichberechtigung im Klassikbetrieb. Sie lobt zunächst die Bemühungen des Lucerne Festivals, dirigierende und komponierende Frauen zum Schwerpunkt zu machen. Das mag man als kulturpolitisch wertvolles Signal werten. In meinen Augen ist das eine Themensetzung, die vor allem unter PR-Gesichtspunkten sinnvoll war, weil sie mehr Medien-Aufmerksamkeit gebracht hat, als etwa «Humor» oder andere Schwerpunkte der letzten Jahre. Aber welches künstlerisches Statement sollte damit verbunden sein? (mehr …)

  • Gelungene stARTcamp-Premiere in der Schweiz

    Die ersten Ideen für ein Schweizer stARTcamp gehen zurück in das Jahr 2012, wenn ich das richtig erinnere. Und wie das in der Schweiz mitunter so ist, dauert es einfach ein kleines bisschen länger als anderswo. Am vergangenen Montag war es dann aber endlich soweit mit der Schweizer stARTcamp-Premiere. Ca. 50 Camper waren wir im Historischen Museum Basel, das freundlicherweise Räume und Infrastruktur zur Verfügung gestellt hatte. In meinen Augen eine ideale Grösse für ein stARTcamp. Frank Tentler, der extra aus dem Ruhrgebiet angereist war, und Mitorganisator Axel Vogelsang haben bereits ausführliche Rückblicke in ihren Blogs veröffentlicht. Aber da jeder Teilnehmer aufgrund der parallel laufenden Sessions sein ganz individuelles stARTcamp erlebt, fasse ich den Tag hier auch noch einmal aus meiner Sicht zusammen. (mehr …)

  • Im VAN-Magazin: Im Sinne der Kunst

    Christian Holst hört Schweizer Radio, denkt nach und landet irgendwann bei der Forderung »Mehr Unternehmertum« – jenseits von neoliberalem Gerede.

    So hat das VAN-Magazin in seinem letzten Newsletter einen Artikel von mir angekündigt. 🙂 Es geht dort nochmal um das Thema «Kulturunternehmertum», mit dem ich mich ja seit einiger Zeit intensiver beschäftige. Wer VAN noch nicht kennt: Es ist ein sehr gut gemachtes Webmagazin über klassische Musik, das sich vor allem für das interessiert, was jenseits der gängigen Fachdiskurse und  Hochglanzportraits stattfindet. Zwei Artikel pro Monat kann man kostenlos lesen, zugriff auf den Rest erhält man mit einem Abo.

  • Wie Glenn Gould und Luciano Pavarotti das klassische Konzert schöpferisch zerstörten und warum sie trotzdem kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen

    «Man muss das Konzert verändern, um es zu erhalten.» Der Satz von Martin Tröndle ist zu einem Mantra der klassischen Musikszene geworden. Die Hoffnung scheint zu sein, dass die Innovationslogik normaler Märkte auch frischen Wind und neue Kunden in die altehrwürdige klassischen Musik bringt. Übersehen wird bei dieser Forderung, dass die «schöpferische Zerstörung» der Innovation das klassische Konzert bereits vor Jahrzehnten zum Stadion- oder wahlweise Wohnzimmer-Konzert weiterentwickelt hat. Um zwei Beispiele zu nennen: Glenn Goulds späte Interpretationen, z.B. der Goldberg-Variationen, sind ausschließlich auf Tonkonserve rezipierbar (gewesen) und ein ästhetisches Ergebnis nicht nur der technischen und interpretatorischen Fähigkeiten Glenn Goulds am Instrument, sondern auch der bewusst und offen genutzten Studio- und Schnitttechnik der frühen 80er Jahre.

    www.youtube.com/watch?v=N2YMSt3yfko

    Knappe zehn Jahre später schmetterten die drei Tenöre ihr «Nessun dorma» vor 6.000 Personen in den Nachthimmel über den Caracalla-Thermen (Veranstaltungsort!). Weitere knapp 800 Mio. Menschen sahen sich das Ereignis im Fernsehen an.

    www.youtube.com/watch?v=LYAsFelf7no

    Darüber hinaus haben die neuen technischen Möglichkeiten bereits lange vor Gould ganz neue Arten von Musik hervorgebracht. Der weitaus überwiegende Teil der zeitgenössischen Musik (nicht nur aus dem klassischen Sektor) ist ohne den Einsatz elektronischer Instrumente und Medien überhaupt nicht denkbar. Innovationen wie die elektronische Verstärkung haben nicht nur die Rezeption – Stichwort Stadionkonzerte -, sondern auch die Musik selbst radikal verändert. Dass diese Innovationen mit der klassischen Musik nichts zu tun haben, kann man nur glauben, wenn man die strikte Trennung zwischen E- und U-Musik für sinnvoll und die klassische Musik für eine abgeschottete Nische hält.

    Aber selbst wenn man mal die Kategorie der E-Musik beibehält: Mehr oder weniger in zeitlicher Nähe zu Tröndles Aufruf sind inzwischen zahlreiche Initiativen entstanden, die klassische Konzerte zwar nicht unbedingt schöpferisch zerstören, aber doch unter anderen Vorzeichen präsentieren wollen. So zum Beispiel das Podium-Festival oder die Y-Night in der Schweiz, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mittlerweile handelt es sich dabei nicht mehr nur um eine Graswurzel-Bewegung: Gerade hat Yannick Nézet-Séguin in einer Keynote für die Classical Next neue Spielorte, neue Dresscodes und neues Repertoire gefordert. Und vor einigen Monaten gab es im Web eine von Radiohead-Mitglied Johnny Greenwood angestoßene Diskussion, ob man im Sinfoniekonzert zwischendrin klatschen dürfen sollte, spontaner programmieren könnte oder während der Konzerte nicht ein Smartphone benutzen dürfe.

    Gareth Davies, Solo-Flötist beim London Symphony Orchestra, stellt mit durchaus einleuchtenden Argumenten in Frage, ob sich durch solche Ansätze wirklich etwas ändert. Für ihn bleiben die Innovationsversuche bei klassischen Konzerten sehr oberflächlich:

    There seems very little invention and much more repackaging.

    Und er führt diese These dann anhand einiger Beispiele näher aus, zum Beispiel:

    Don’t get me started on fancy lighting. Why on earth anyone thinks that the holy grail of audiences for classical music – young people – who have been brought up on YouTube, video games, 3D films, iPhones and on demand content, are going to be impressed by subtly changing mood lighting during a symphony which never asked for it in the first place, is beyond me.

    Später im Text berichtet er vom jährlichen Trafalgar Square-Konzert des London Symphony und ist sich sicher, dass die Hauptfaszination des Ereignisses mit 10.000 Besuchern sich im Kern nicht von der eines Sinfoniekonzerts in einem herkömmlichen Konzertsaal unterscheidet:

    What we presented was great music performed at the top level conducted by the best.

    Und so lange das den Kern des Erlebnisses klassischer Musik ausmacht, ist für mich auch die Frage, was denn eigentlich genau verändert oder erneuert werden muss? Natürlich, warum soll man Musik nicht visualisieren

    www.youtube.com/watch?v=JhHFzLfQDVQ

    oder Klassik im Club spielen und die Zuhörer dabei ein Bier trinken lassen? Dagegen spricht in meinen Augen genau so wenig, wie eine Mahler-Sinfonie im Wohnzimmer oder im Auto zu hören (letzteres offenbar eine Leidenschaft, die Udo Lindenberg und Angela Merkel teilen). Ich bezweifel nur, dass das die Zukunft der klassischen Musik ist (der Weg in eine neue Ära, wie es auf der Website von Klassik im Club heißt) und sie zu einem hippen Phänomen machen wird.

    Dazu gibt es doch zu viel klassische Musik, die sich einfach am besten in der konzentrierten, stillen Atmosphäre eines Konzertsaals rezipieren lässt. Meine These ist: je grösser die Besetzung, desto bedeutender ist der geeignete Raum. Ich habe vor langer Zeit einmal Mahlers Vierte in einer Reithalle gehört. Es spielte das Deutsche Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Kent Nagano. Es war also sicher keine schlechte Interpretation. Was ich in Erinnerung habe ist allerdings die Schwalbenfamilie, die unter dem Dach der Reithalle nistete und keine Rücksicht auf Orchester und Publikum nahm, sondern alle paar Minuten die von der Futtersuche zurückkehrende Mutter lautstark begrüßte. Vor nicht so langer Zeit hörte ich die Vierte wieder einmal. Diesmal in der Zürcher Tonhalle, einem Saal mit einer Akustik, die derart transparent ist, dass ich Details hörte, die mir bei keinem vorherigen Konzert, in keiner Aufnahme und schon gar nicht in der Reithalle je aufgefallen waren. Ein anderes Beispiel: Ebenfalls vor langer Zeit hörte ich Mahlers Achte in der Kieler Ostseehalle unter der Leitung von Christoph Eschenbach. Es war also ziemlich sicher eine schlechte Interpretation. Aber die Halle gab dem Stück den Rest. Und wiederum ein positives Erlebnis war die Aufführung des gleichen Stücks im KKL Luzern, angeblich einem der weltweit besten Konzertsäle. Auch wer mal eine Aufführung im Bayreuther Festspielhaus miterlebt hat weiß, dass der Saal selbst ein Instrument ist, das die Qualität einer Aufführung maßgeblich mit beeinflusst. Insofern ist es zwar mal eine nette Aktion, wenn das Ensemble Spira mirabilis Beethovens 2. auf dem Piazza di Vicchio in Florenz spielt. Aber kreuzende Autos und Mofas sind kein Gewinn für die Musik und es hat wohl seinen Grund, dass das Ensemble normalerweise auch lieber in Konzertsälen oder Kirchen auftritt.

    www.youtube.com/watch?v=xYBYq5-4IC4

    Das eigentliche Problem der klassischen Musik liegt in meinen Augen weniger daran, dass die Verpackung unattraktiv geworden ist, als an zwei anderen Punkten:

    Klassische Musik spielt als zeitgenössische Musik praktisch keine Rolle. Nicht einmal die Filmmusik hat sie sich nachhaltig erobern können. Schönberg, Korngold und Schostokowitsch schrieben auch für den Film. Die heutigen Filmkomponisten werden in der Klassikszene jedoch kaum wahr- geschweige denn ernst genommen. Alle Jubeljahre findet man vielleicht einmal John Williams Star Wars-Suite auf dem Programm eines Sinfonieorchesters. Ansonsten ist die zeitgenössische Musik eine weitestgehend durch öffentliches Geld und Stiftungsmittel am Leben gehaltene Nische ohne ästhetische Relevanz über deren Grenzen hinaus.

    Das zweite Problem ist ein Missverständnis, dem auch viele Theater und Opernhäuser mit ihrem «musealen» Repertoire aufsitzen. Es ist der Glaube, einen Bezug zur Gegenwart vermitteln zu müssen und diese Musealität um jeden Preis zu vermeiden. Aber was soll ein Kunstwerk aus dem 18. oder 19. Jahrhundert denn anderes als (auch) museal sein? Es ist alt, es ist ästhetisch und technologisch nicht auf dem Stand unserer Zeit. Na und? Dass etwas museal ist heißt ja nicht, dass wir es nicht mehr ohne Weiteres verstehen können, dass es uns nicht berühren, faszinieren, anregen, abstoßen oder sonstwie erreichen kann. Ironischerweise geht das vielen Menschen viel eher mit der zeitgenössischen klassischen Musik so.

    Der effektivste Hebel, der klassischen Musik wieder zu mehr Relevanz und Beliebtheit zu verhelfen, scheint zu sein, das aktive Musizieren von früh an zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens zu machen. Alle erfolgreichen Vermittlungskonzepte, von El Sistema bis Rhythm Is It oder Jedem Kind ein Instrument, setzen nämlich genau an diesem Punkt an. Und eine Studie der Uni St. Gallen bestätigt diesen Ansatz. Die kurz gefasste Erkenntnis der Studie lautet: Wer selbst ein klassisches Instrument lernt und als Kind aktiv (klassische Musik) musiziert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit sein Leben lang einen positiven Bezug zur klassischen Musik behalten, zumindest als Fan, vielleicht auch als aktiver (Amateur-)Musiker.

    Eine aufgehübschte Verpackung kann demnach nicht die inhaltliche Vermittlung ersetzen. Vielleicht führen solche Aufhübschungen sogar eher in die Irre, weil sie wahrscheinlich ineffektiv bleiben werden, wenn es darum geht, die Relevanz der klassischen Musik zu erhalten. (Als ich mal eine Klassik im Club-Veranstaltung besucht habe, bestand das Publikum – so war zumindest mein Eindruck – mindestens zur Hälfte aus Mitarbeitern von Kultureinrichtungen, die sich dieses neue Format einmal anschauen wollten.) Und wenn die inhaltliche Vermittlung gelingt, ist die Verpackung wie es scheint ohnehin zweitrangig. Dann kann man ein konventionelles Sinfoniekonzert ebenso genießen, wie ein «Nessun dorma» beim Open Air-Konzert, ein Streichquartett im Club oder eine Glenn Gould-Aufnahme im Wohnzimmer.

  • Neun Sinfonien

    Via Mehr Licht bin ich auf eine Blog-Aktion aus den USA gestossen, bei der man 9 Sinfonien für die einsame Insel bestimmen soll. Dabei darf jeder Komponist nur einmal vorkommen, die Nummerierung zeigt keine Platzierung an, sondern die Nummer der jeweiligen Sinfonie. Weiter unten findet ihr meine Liste. Ich gebe zu: Im Vergleich zu anderen Bloggern, die diese Idee aufgegriffen haben, ist meine Auswahl recht unoriginell und naheliegend. Aber dass soviel Mahler, Bruckner und Beethoven gespielt wird, hat vor allem damit zu tun, dass sie einfach wegweisende, herausragende Musik komponiert haben. Deswegen würde ich auch unbedingt ihre Musik auf eine einsame Insel nehmen wollen. Kürzlich hat Volker Hagedorn sich in der Zeit beklagt, dass in den Konzertsälen das immer gleiche gespielt würde – eben Mahler, Brahms, Beethoven usw. Um zu beweisen, dass es ja auch jenseits dieser Komponisten gute Musik gibt, berichtet er von einem Konzerterlebnis mit der zweiten Sinfonie des «Zuspätromantikers» Thodore Dubois. Bei Licht besehen muss man aber wohl doch festhalten, dass das Lob auf Dubois vor allem der Pointe des Artikels wegen so euphorisch ausfällt, nicht weil Dubois wirklich so ein herausragender, zu Unrecht vergessener Komponist war. Außerdem besuchte ich kürzlich eine Aufführung der h-Moll-Messe unter der Leitung von John Eliot Gardiner und stellte einmal mehr fest: Weder als Zuhörer noch als Interpret scheint sich die Auseinandersetzung mit einem solchen Werk je zu erschöpfen. Für die Werke in der Liste gilt das in meinen Augen ganz entsprechend.

    1. Messiaen: Turangalila
    2. Brahms
    3. Schumann
    4. Beethoven
    5. Prokofiev
    6. Schostakowitsch
    7. Mahler
    8. Bruckner
    9. Schubert

    Noch ein paar Anmerkungen: Die Turangalila-Sinfonie von Messiaen passt nicht ganz ins Schema. Soweit ich weiss, ist es aber sein einziges Werk, das er explizit als Sinfonie bezeichnet und somit ist es quasi eine Nr. 1. Unter den Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Messiaen für mich der herausragendste, weil ich ihm glaube. Seine künstlerische Botschaft mag naiv wirken, es mag avanciertere Komponisten geben – aber seine Kunst hat eine Tiefe, die in meinen Augen kein anderer Komponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht hat.

    Alex Ross hat sich entschieden, Beethoven ganz außer Konkurrenz zu lassen, weil er eh genug Aufmerksamkeit erhält. Aber ich finde das geht nicht. Die 4. Sinfonie ist nicht ganz so populär wie die 5., 7. oder 9. In meinen Augen steht sie diesen Stücken aber in nichts nach.

    Sollte man sich für ein einziges Werk aus dieser Liste entscheiden müssen, dann wäre es für mich die Bruckner-Sinfonie. Auch wenn mir eigentlich der Ansatz gefällt, dass diese Sinfonie mehr und mehr in der raueren, ungehobelteren Urfassung gespielt wird, würde ich doch die überarbeitete Fassung mitnehmen. Denn nur die gibt es in der unübertroffenen Interpretation von Stanislaw Skrowaczewski.