Den Takt vorgeben: Was man beim Dirigieren über Leadership lernen kann
Im vergangenen Sommer war ich auf Einladung des Siemens Arts Programme auf Bloggerreise in Salzburg. Neben der netten Gesellschaft und der perfekten Organisation war ein Highlight dieser Reise ein Dirigier-Workshop – mit Stephan Frucht als Leiter und den Salzburg Soloists als ebenso stoischem wie nachsichtigem Experimentiergegenstand. Angelika Schoder, Christian Gries, Axel Kopp und die Kulturflüsterin haben über diesen Workshops bereits ausführlich in ihren Blogs berichtet. Durch neuen Job, stARTcamp und ein paar andere Dinge kommt mein Bericht erst jetzt.
Gedacht ist das Seminar normalerweise nicht für Kulturblogger, sondern für die Managementkräfte von Siemens, die damit zur Reflektion über das eigene Führungsverhalten in puncto Auftreten, Präsenz etc. angeregt werden sollen. Und dafür ist dieser Workshop auch zweifelsfrei geeignet, denn Orchester zu führen ist in mancherlei Hinsicht prototypisch für das Führen in großen, stark arbeitsteiligen Organisationen mit eher hoher Leitungstiefe. Die Metapher „den Takt vorgeben“ kommt nicht von ungefähr. Frucht machte das in seinen Erläuterungen deutlich, in denen er auf die Herkunft des Dirigenten aus der Militärmusik verwies. Über diese Analogien hinaus regte der Workshop aber auch zum Nachdenken über Führung allgemein an. Denn freilich besteht die Aufgabe des Dirigenten nicht darin, Kommandos zu geben. Als Dirigent, so Frucht, sei man vielmehr zuständig für
– den Blick aufs große Ganze,
– das Qualitätsmanagement und
– die Motivation der Mitarbeiter.
Dinge, die eine gute Führungskraft ebenfalls auszeichnen. Darüber hinaus sollten Dirigent wie Manager gute Zuhörer und in Gedanken ihren Mitarbeitern immer zwei Schritte voraus sein. Insofern lassen sich viele Parallelen ziehen, die als Denkanstoß aufschlussreich sein können.
Erstaunlich war für mich zu sehen, wie unterschiedlich das Orchester klang und reagierte, je nachdem, wer von uns gerade vor ihm stand. Und das, obwohl es noch gar nicht um musikalische Feinheiten ging, sondern wir nur Tonleitern und ein einfaches «Freude schöner Götterfunke»-Arrangement dirigierten. Somit könnte man schlussfolgern, dass sich die Persönlichkeit einer Führungsperson immer auch im Ergebnis widerspiegelt und dieses immer etwas anders ausfallen kann, ohne dadurch aber besser oder schlechter zu sein. Es gibt ja eine viel zitierte Anekdote über den Klang der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler. Und zwar soll ein Gastdirigent mit dem Orchester geprobt und sich irgendwann während der Probe gewundert haben, warum das Orchester auf einmal ganz anders klang. Bis er sich umdrehte und feststellte, dass sich Wilhelm Furtwängler hinten in den Saal gesetzt hatte. Kann gut sein, dass das eine Urban Legend ist, aber nach der Erfahrung im Workshop kam sie mir doch ein ganzes Stück glaubwürdiger vor.
Die Schlussfolgerung, dass es bestimmter Persönlichkeitsmerkmale oder Eigenschaften bedarf, um ein guter Dirigent oder eine gute Führungskraft zu sein, halte ich allerdings auch nach dem Workshop noch für vorschnell. Fredmund Malik betont in seinen Büchern gerne, dass es nicht entscheidend ist, wie jemand ist. Im Workshop wurde das durch eine kleine Fotoanalyse verschiedener großer Dirigenten in typischen Posen verdeutlicht: Der eine wirkt sympathisch und freundlich, der andere skurril und exzentrisch und der nächste herrisch und schlecht gelaunt – herausragende Dirigenten waren sie trotzdem alle. Man sollte also die Falle vermeiden, zu sehr von Äußerlichkeiten oder persönlichen Eigenschaften auf Leadership-Qualitäten zu schließen. Itay Talgam ist meines Erachtens in seinem berühmten TedTalk daher ziemlich auf dem Holzweg, wenn er genau solche Äußerlichkeiten «analysiert» und meint, auf dieser Basis weitreichende Rückschlüsse über Führungsprinzipien ziehen zu können: Empathie macht Führen überflüssig, wer den Raum beherrscht, beherrscht die Leute, wer zuviel Macht ausübt, entmachtet sich selbst. Nee, ist klar. Es sind völlig unsystematisch zusammengestellte Youtube-Schnipsel, die Talgam präsentiert und deren Aussagekraft gegen Null geht. Kleiber ist nicht der bessere Dirigent als Muti, weil er lächelt anstatt grimmig zu gucken. Und Bernsteins Gag, einen Haydn-Satz nur mit Mimik zu dirigieren ist zwar lustig, aber auch nicht der Grund, warum Bernstein ein toller Dirigent war und funktioniert auch nur bei bestimmter Musik. Es spielt keine Rolle, ob ein Dirigent das Orchester anlächelt (zumal wenn er gerade Strausswalzer dirigiert) oder mal grimmig guckt (während er eine düstere Mozart-Ouvertüre dirigiert), ob die Bewegungen weich oder zackig sind. Die eigentliche Kunst liegt darin, in der Partitur etwas zu entdecken, was andere so nicht finden und es den Musikern vermitteln zu können, eine neue Sicht auf etwas Altbekanntes zu ermöglichen.
Da hilft eher das Konzept der transformationalen Führung weiter, also das Wecken und Orchestrieren (!) der intrinsischen Motivation vieler Individuen. Dieses Konzept lässt sich an Dirigenten insofern besonders gut zeigen, als sie im Konzert tatsächlich nur «transformierend» einwirken können. Jede direkte Steuerung, jedes direkte Eingreifen ist ihnen verwehrt. Was transformationale Führung ausmacht hat Bernard M. Bass anhand von «vier Is» beschrieben:
- Idealized influence meint authentisches Verhalten der Führungskraft, durch das sie Respekt und Vertrauen gewinnt und zur Identifikationsfigur wird.
- Inspirational motivation meint, dass die Führungskraft die Bedeutung von Zielen und Aufgaben vermitteln kann, so dass Motivation nicht über externe Anreize erfolgt, sondern durch persönliche Identifikation mit diesen Zielen.
- Intellectual stimulation bedeutet, dass die Mitarbeiter auf intellektueller Ebene angeregt, Gewohnheiten und Routinen zu hinterfragen, Neues zu lernen und aktiv neue Erkenntnisse und Einsichten anzustreben, die zum Gelingen des Ganzen beitragen können.
- Individualized consideration schließlich heißt, dass die Führungskraft individuell auf die Mitarbeiter eingeht und sie gemäß ihrer individuellen Stärken fördert und fordert.
In anderen Modellen werden diese Punkte noch ergänzt um Zukunftsvision und hohe Leistungserwartung, wovon zumindest letzteres im Orchesterbereich sicher auch als selbstverständliche Voraussetzung angesehen wird. Ich würde die These wagen, dass sich diese vier Punkte in der Arbeitsweise praktisch aller großen, heute lebenden Dirigenten wird finden können – unabhängig von allen Unterschieden in der Persönlichkeit, im Stil, in musikalischen Vorlieben und Auffassungen. Früher mag das etwas anders gewesen sein, wo die Rolle des Dirigenten noch autokratischer verstanden wurde, der Dirigent das Orchester mehr als sein Instrument verstand als eine Gruppe von Menschen. Der Trend von der transaktionalen Führung (Zielvereinbarung) zur transformationalen Führung lässt sich somit wahrscheinlich auch im Orchesterbereich nachvollziehen.
Im Nachgang des Workshops stellte ich mir aber auch die Frage, wo die Grenzen des Transfers von der Orchesterwelt in die sonstige Arbeitswelt liegen. Schließlich ist es nicht der Normalfall in der gewöhnlichen Arbeitswelt, dass es sehr detaillierte Ausführungsanweisungen für 80 Personen gibt, die eine Person in wochenlanger Vorbereitung alle akribisch durchgearbeitet hat, um sie dann in einer bestimmten Situation koordinieren zu können. Es gibt sie bestimmt hier und dort. Zum Beispiel beim Militär, Flugverkehr oder in der Chirurgie und anderen Bereichen, wo strikt standardisierte Abläufe und strenge Hierarchien nach wie vor sinnvoll sind. Insgesamt wird heute aber eher darüber nachgedacht, wie solche Strukturen aufgelöst werden können, so dass die einzelnen Personen im Rahmen gröberer Leitlinien und Zielsetzungen nach ihrem besten Wissen und Gewissen arbeiten und sich entfalten und einbringen können. Gerade wenn es keine detaillierten Ausführungsanweisungen gibt oder geben kann, etwa, weil man sich in unsicheren, dynamischeren Umfeldern bewegt, ist wohl eher die improvisierende Jazzband ein geeignetes Vorbild für Kooperation und Führung: Eine eher kleine Gruppe, in der alle mehr oder weniger gleichgestellt sind, ihre Funktion in der Gruppe und die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit kennen, aber innerhalb dieses Spielfelds sehr spontan und frei agieren können, in der jeder die Gelegenheit hat zu brillieren und wo nicht von vornherein klar ist, wie das Arbeitsergebnis am Ende aussehen wird.
Auch in der Orchesterwelt haben solche Ideen inzwischen Einzug gehalten. Manche (kleinere) Orchester spielen ohne Dirigenten – eines davon ist die Berner Camerata. Louis Dupras, der ehemalige Leiter der Camerata, sagte mir vor längerem mal in einem Interview, dass er den Erfolg des Ensembles auch darin vermute, dass das Modell des Orchesters unserer Zeit und unseren heutigen Vorstellungen von Zusammenarbeit sehr entspräche:
Es ist eine Hypothese von mir, aber ich könnte mir vorstellen, dass es mit der Art und Weise zu tun hat, wie wir mit klassischer Musik umgehen, wie wir sie spielen. Im 19. Jahrhundert waren die Industrien sehr hierarchisch und sehr arbeitsteilig aufgebaut. Das spiegelt sich in der Struktur eines Sinfonieorchesters, das etwa parallel zur Industrialisierung entstanden ist und mit ihr seine Blüte hatte. Heute sind viele Unternehmen kollegialer, teamorientierter aufgestellt. Das spiegelt sich in der Art und Weise wieder, wie die Camerata musiziert. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich viele Leute heute eher mit einem Modell identifizieren können, wie wir es praktizieren, weil sie merken, da sind Leute auf der Bühne, die etwas zusammen machen, weil sie Freude daran haben. Jeder kann und muss etwas entscheiden, jeder gibt sein Bestes, keiner kann sich in der Masse verstecken und niemand ist nur ein austauschbares Rädchen im Getriebe. Die Identifikationsmöglichkeiten sind da viel aktueller. Das ist ein Aspekt, der leider nur selten diskutiert wird, aber ich denke, das spielt auf einer übergeordneten Ebene eine wichtige Rolle für den Erfolg der Camerata.
Neben der aufregenden Erfahrung, einmal selbst vor einem Orchester stehen zu dürfen bietet ein solcher Workshop somit jede Menge Anregungen, über Führung und Zusammenarbeit nachzudenken. In Bezug auf die Parallelen, die sich zweifellos ziehen lassen ebenso wie in Bezug auf Aspekte, wo die Übereinstimmungen gerade nicht festzustellen sind. In diesem Sinne noch einmal sehr herzlichen Dank für die Einladung, liebes Siemens Arts Programme!