Klassikszene: Vitalfunktionen ok

Veröffentlicht von Christian Holst am

In der Klassikszene scheint gerade Optimismus vorzuherrschen. Volker Hagedorn fordert in der Zeit: Hört doch bitte endlich auf zu jammern. Es werde oft geweint, wo es eigentlich Grund zum Lachen gäbe, meint er mit Verweis auf eine Publikumsstatistik der Deutschen Orchestervereinigung.

Von 2005 bis 2012 ist die Zahl derer, die sich Konzerte der öffentlich finanzierten Orchester in Deutschland anhörten, von etwa 3,9 Millionen auf knapp 4,3 Millionen jährlich gestiegen, parallel zur Zahl der Konzerte selbst: von 8.653 auf 10.371.

Die Neujahrsmeldung des Blogs Orchesterland, hinter dem ebenfalls die Deutsche Orchestervereinigung steht, stößt ins gleiche Horn. Der Post zeigt ein steigendes Interesse an klassischer Musik anhand von gestiegenen Auslastungszahlen bei verschiedenen Festivals und Opernhäusern und Sinfonieorchestern auf.

Allerdings lohnt ein genauerer Blick auf diese Zahlen. Denn nach einer Statistik des Musikinformationszentrums (MIZ) sind die Konzertbesuche seit 2005 recht stabil geblieben. Einen Anstieg gab es zwischen 2005 und 2012 nur dadurch, dass die Rundfunkorchester erst seit 2006 mit erfasst werden. Und wenn man sich gemäß den von Hagedorn genannten Zahlen das Verhältnis von zusätzlichen Konzerten (1.718) zu zusätzlichen Besuchern (400.000) anschaut, kommt man auf durchschnittlich 233 Besuche pro zusätzlichem Konzert. Damit liegt die Vermutung auf der Hand, dass schwerpunktmäßig das kammermusikalische Angebot vergrößert wurde, nicht das Orchesterkonzert-Angebot. Diese Entwicklung würde übrigens dem Trend entsprechen, der auch bei Theatern zu beobachten ist, nämlich immer mehr kleine Veranstaltungen mit einem stabilen oder sogar schrumpfenden Personalstock anzubieten.

Auch die Neujahrsmeldung von Orchesterland lohnt ein genaueres Hinsehen: Eine gestiegene Auslastung sagt nämlich nichts über die Zahl der verkauften Tickets aus. Sie beschreibt das Verhältnis von angebotenen Plätzen zur Nachfrage. Die Auslastung kann daher sowohl steigen, wenn die Nachfrage bei stabilem Platzangebot wächst, als auch, wenn das Platzangebot bei stabiler Nachfrage schrumpft. Die von Orchesterland angeführte Berliner Staatsoper erzielte 2014 eine «Rekordauslastung», obwohl sie 7.000 Besuche weniger hatte als 2013.

Dennoch teile ich den Optimismus, was die Klassikszene angeht. Er leitet sich aber nicht aus irgendwelchen Zahlen ab, sondern aus einem anderen Argument, das Hagedorn nennt, nämlich der zunehmenden unternehmerischen Vitalität der Szene. Hagedorn nennt als Beispiele den Aufstieg zahlreicher kleiner hervorragender Labels, die Menge und Qualität an spezialisierten freien Ensembles und das Musikmagazin VAN, das Musikjournalismus ins digitale Zeitalter transformiert. Ja, es sind die unternehmerischen Initiativen in der Klassikszene, die sie nach vorne bringen und inhaltlich am Leben halten. Deswegen: So lange die Klassikszene vital bleibt, werden sich auch Zuschauer für dieses Angebot begeistern lassen.


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