Atrophie statt Kulturinfarkt: Warum wir ein Kulturmanagement des demographischen Wandels brauchen

Veröffentlicht von christianholst am

Zur Zeit wird viel über die Polykrise in der Kultur geschrieben: LongCovid, Publikumsschwund, Machtmissbrauch, Klimakrise, die nur schleppend vorangehende digitale Transformation usw. Trotz der einschüchternden Dimension dieser Krisen ist der Optimismus, sie in den Griff zu bekommen, bemerkenswert unerschütterlich. Beispielhaft ist mir das kürzlich an zwei Debattenbeiträgen zur Wiener Kulturszene aufgefallen. Im Standard wurden mit Statements von Fabian Burstein und Veronica Kaup-Hasler zwei scheinbar gegensätzliche Positionen einander gegenüber gestellt. Bei näherem Hinsehen besteht allerdings kaum ein Gegensatz. Es sind eher unterschiedliche Sichtweisen darauf, was zu tun ist. Kaup-Hasler ist als Funktionärin naturgemäß etwas optimistischer als Burstein, der gerade seine Streitschrift  „Eroberung des Elfenbeinturms“ bewirbt. Kaup-Hasler sieht hier und da noch Optimierungspotenzial, aber meint, dass die Richtung stimmt. Burstein liefert vier Vorschläge, wie sich die Krise bewältigen ließe: mehr Publikumsorientierung, mehr Bezug zur Lebensrealität, mehr Gegenwartsbezug, bessere Governance. In seinem Buch weitet er es dann auf 23 Thesen aus, was die Sache vielleicht ein bisschen komplexer aber nicht an sich aussichtslos macht. Burstein wendet sich dagegen, „Publikumsschwund und Relevanzverlust als schicksalhafte Konsequenz ‚äußerer Umstände‘“ einzuordnen, „als ob vorher alles gut gewesen wäre.“

In Bezug auf Publikumsschwund und Relevanzverlust mag Burstein hier einen Punkt haben. Ich persönlich bin allerdings skeptischer, da mir keine Strategien bekannt wären, die Publikumsschwund oder Relevanzverlust wirklich nachhaltig und replizierbar aufzuhalten vermögen, d.h. über Erfolgsgeschichten einzelner Leitungsäras oder Fallbeispiele hinaus. Soweit ich das überblicke, gibt mir die empirische Forschung bei dieser Einschätzung recht, auch wenn ich gerne bereit bin, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Wie dem auch sei, endgültig machtlos sehe ich Kultureinrichtungen gegenüber einer Entwicklung, die sich auf der organisationalen Ebene zu einer Herausforderung mindestens der Größenordnung von Klimaneutralität, zeitgemäßen Organisationsstrukturen oder der Gewährleistung der gesellschaftlichen Relevanz von Kultur ausweiten wird. Trotz (oder gerade wegen?) dieser gewaltigen Dimension wird dieses Thema in der aktuellen Debatte um die multiplen Krisen meist als Randnotiz abgehandelt: Es geht um den demographischen Wandel. 

Das Problem des demographischen Wandels wird sich als erstes im Personalmanagement niederschlagen. Dass diese Domäne im Kulturmanagement lange vernachlässigt wurde und oftmals immer noch wird, dürfte sich schon sehr bald sehr bitter rächen. Bereits jetzt zeigt sich allerorten Personalmangel. Dabei geht der demographische Wandel erst los. Stefan Schulz rechnet in seinem Buch „Die Altenrepublik“ mit Bezug auf Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit vor, dass in den nächsten zehn Jahren jährlich (!) durchschnittlich 400.000 mehr Menschen in Rente gehen, als in den Arbeitsmarkt eintreten. Über zehn Jahre gesehen werden also 4 Millionen Menschen im Arbeitsmarkt fehlen. Auch wenn es wenig Anzeichen dafür gibt, dass Richard David Precht mit seinen Prognosen Recht hat, dass die Automatisierung uns die Arbeit abnehmen wird, man kann angesichts dieser Zahlen eigentlich nur hoffen, dass er doch nicht ganz so daneben liegt, wie es derzeit aussieht.

Nun kann man einwenden, dass die Arbeit im Kultursektor für viele Menschen attraktiv ist, weil sie u.a. Status und Selbstverwirklichung verspricht, der Kultursektor also weniger stark betroffen sein wird als die Sektoren Handwerk, Erziehung oder Pflege, die jetzt schon auf dem letzten Loch pfeifen. Allerdings hat Kulturbereich als Arbeitsfeld massiv an Attraktivität eingebüßt aufgrund vergleichsweise schlechter Bezahlung, Familienunfreundlichkeit und mitunter toxischen Arbeitsbedingungen. Von Dirk Schütz von Kulturpersonal, einer „Headhunting“-Agentur für den Kultursektor, ist zu hören, dass es bereits heute schwierig ist, Leitungspositionen im Kulturbereich zu besetzen. Das Problem dürfte sich massiv verschärfen. 

In Bezug auf den Publikumsschwund könnte der demographische Wandel zunächst eher für Entspannung sorgen (oder sollte man es eher trügerische Sicherheit nennen?). Die „Boomergeneration“, die in den kommenden zehn Jahren in Rente geht, wird das erste Jahrzehnt ihrer Rentenzeit unternehmungslustig sein, über mehr Geld verfügen als folgende Rentnergenerationen und genügend Bezug zu den Angeboten haben, die Kultureinrichtungen derzeit so machen. Darin könnte sogar eine vorübergehende Chance für die Kultureinrichtungen liegen. In zehn bis fünfzehn Jahren wird diese Generation dann zunehmend als Publikum fehlen. Diese Entwicklung werden keine Publikumsorientierung, kein Lebensweltbezug, kein Gegenwartsbezug, keine Governance, kein Audience Development, kein Outreach und kein Marketing auffangen. Das Problem ist hier nicht (in erster Linie) soziale Abschottung oder Ausgrenzung, sondern simple Bevölkerungsstatistik – und damit durchaus „schicksalhafte Konsequenz äußerer Umstände“. Einzelne Einrichtungen werden härter oder weniger hart getroffen sein, smarter oder weniger smart damit umgehen. Internationalisierung mit Hilfe von digitalen Angeboten kann für große Kulturmarken eine Strategie sein, die Größe ihres Publikums zu halten. Hier und da wird es vielleicht gelingen, die Publikumszahlen durch Diversifizierung oder Popularisierung des Programms stabil zu halten. Aber der eh schon harte Kampf ums Publikum wird sich zuspitzen. Zum einen, weil die geburtenstarken Jahrgänge als Publikum verloren gehen, zum anderen, weil die dann folgenden Rentnergenerationen später in Rente gehen, weniger Geld zur Verfügung haben werden und vielleicht auch bevorzugt Formen von Kultur rezipiert, die nicht von den klassischen Einrichtungen angeboten werden können.

Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die Zeiten eines Kulturmanagements vorbei sind, das von einem hemdsärmeligen „Wir kriegen das schon hin, wenn wir nur vier oder sieben oder 23 oder wieviel auch immer Grundsätze beachten“ ausgeht und damit einem Wachstums- oder zumindest Stabilitätsoptimismus anhängt, die es bei anderen zu Recht kritisieren würde. Auch der Kultursektor unterliegt Grenzen des Wachstums. Diese Grenzen liegen allerdings nicht in den Rohstoffen am Anfang der Wertschöpfungskette, sondern an der schrumpfenden Ressource an deren Ende: dem Publikum. Insofern ist es gar nicht in erster Linie der vor zehn Jahren diagnostizierte Kulturinfarkt, an dem der Kultursektor krankt, sondern eher Atrophie, Gewebeschwund. Erst werden die Mitarbeiter verloren gehen, dann das Publikum und das ist nicht kompensierbar. Die Therapie könnte trotzdem ähnlich aussehen, wie damals für den Kulturinfarkt vorgeschlagen: Einen (Groß-)Teil des Kulturetats aus der derzeitigen Verwendung lösen und neu verteilen. Zur Unterstützung von Institutionen, Formaten und Projekten, die bisher zu kurz gekommen sind und zur besseren Ausstattung der weiterhin bestehenden Häuser. In quantitativer Hinsicht wird das ein Rückbau werden, der vermutlich hart und schmerzhaft verhandelt werden muss. Wenn allerdings gut verhandelt wird, kann diese Entwicklung in qualitativer Hinsicht für die Kunst, die Mitarbeitenden und das Publikum aber durchaus ein Gewinn sein.