Kultur im Shutdown – Teil 1: Digitales Exil oder zweite Heimat?

Veröffentlicht von christianholst am

Die Virologin Karin Mölling sagte neulich in einem Interview (das Radio Eins im Nachhinein in einer höchst peinlichen Art und Weise „einordnete“) Viren seien „Antreiber der Evolution“ (Min 4:03). Das soll jetzt angesichts der schwierigen Situation nicht sarkastisch klingen, aber im übertragenen Sinne lässt sich diese Aussage auch auf die Digitalisierung kultureller Angebote beziehen: Während sich viele Kultureinrichtungen jahrelang damit schwertaten, digitale Programme zu entwickeln, gilt es jetzt, schnell zu sein und in kurzer Zeit digitale Angebote bereitzustellen, damit eine Art kulturelles Leben aufrechterhalten werden kann.

Für Einrichtungen, die sich schon länger digitale Angebote im Programm haben, war das erstmal relativ einfach: Die Berliner Philharmoniker machen ihre Digital Concert Hall vorübergehend frei zugänglich, Opern- und Konzerthäuser und Orchester, die es können, stellen Aufzeichnungen kostenlos zur Verfügung. Eine (nicht vollständige) Übersicht für den Sektor klassische Musik hat die NZZ. Bei der Augsburger Allgemeinen gibt es eine Liste mit Schwerpunkt auf Angeboten von Museen.

Daneben entstanden aber auch viele spontan improvisierte Lösungen wie Igor Levits Hauskonzertreihe, die er via Twitter und Facebook live überträgt, die Lesungen von Saša Stanišić auf Twitch oder die Instagram-Führungen des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Auf Twitter habe ich neulich eine ko-kreativ verfasste Corona-Geschichte entdeckt, leider aber den Link nicht direkt gespeichert. Besonders bewegend fand ich ein Video des Bachfestival Malaysia, bei dem Künstler und Freunde des Festivals online gemeinsam „Befiehl du deine Wege“ sangen und spielten. Das Schöne: Dass das Video gleich hält, was der Text des Chorals – geistlich oder ungeistlich interpretiert – verspricht: „Irgendwie wird es weitergehen“. (Ein ähnliches Video haben die Bamberger Symphoniker auf Instagram gepostet.) Das sind freilich nur wenige und völlig willkürliche Beispiele. Regelmäßig über das Angebot informieren kann man sich im täglichen Krautreporter-Newsletter, der jetzt eine Rubrik mit Kulturtipps für den virtuellen Raum hat. Erwähnenswert für Menschen, die sich für Kulturmanagement in Zeiten des Corona-Virus‘ interessieren, finde ich außerdem noch den Podcast „Wie geht’s?“ des Hamburger Instituts für Kultur- und Medienmanagement, in dem Martin Zierold mit Leuten aus dem Kultursektor darüber spricht, wie der Shutdown ihren Arbeitsalltag verändert.

Es passiert also gerade einiges. In einem Bericht über diese neuen Angebote bin ich neulich allerdings über eine aufschlussreiche Formulierung gestolpert. Dort hieß es nämlich, viele Künstler seien ins „digitale Exil“ ausgewandert. Interessant ist diese Formulierung insofern, als sie impliziert, dass die „Heimat“ der Künstler, die Bühne, der Ausstellungsraum, eben die analoge Welt ist. Die Shutdown-Maßnahmen sind damit quasi eine „Vertreibung“ aus dem natürlichen und angestammten Lebensraum; der digitale Raum ist – auch 2020 noch – ein fremder Raum, in den man durch äußere Umstände gezwungen wird, der aber nicht aus intrinsischer Motivation heraus erkundet wird.

Bislang wurde der Nutzen digitaler Aktivitäten vor allem als Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten gesehen. Damit ist die Digitalisierung im öffentlich finanzierten Kulturbereich zuerst und vor allem im Marketing sichtbar geworden. Als Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten und Ausweitung des ästhetischen Raumes spielte die digitale Sphäre nur eine nachrangige Rolle. Vielleicht, weil es bisher wenig Anreiz gab, sich den digitalen Raum zu erschließen. Tragfähige digitale Geschäftsmodelle für nischige Kunst (ich meine damit die „klassische Kultur“ insgesamt) konnten bislang nicht entwickelt werden – Long Tail hin oder her. Selbst Leuchtturmprojekte mit internationaler Ausstrahlung und einem klaren Business-Case wie die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker bewegen sich – auch viele Jahre nach der Gründung und je nachdem mit wem man spricht – entweder nur sehr knapp oder immer noch nicht in den schwarzen Zahlen. Hier kann man allerdings einwenden: Tragfähige Geschäftsmodelle gibt es für öffentlich finanzierte Kultur in aller Regel auch nicht im analogen Raum und sind bei den derzeit aufkeimenden digitalen Aktivitäten ja auch kein Hinderungsgrund mehr.

Wie gesagt dienten digitale Inhalte in aller Regel zu Marketingzwecken, sie sollten veranschaulichen, was man in den Häusern vor Ort erleben kann. Gerade bei verbal schlecht vermittelbaren Angeboten wie zum Beispiel einem abstrakten Tanzstück ist das natürlich auch sinnvoll. Trotzdem sind die Inhalte immer nur ein Abbild der „eigentlichen“ Inhalte für Marketingzwecke, nicht als eigenständige künstlerische Ausdrucksform gedacht. Andere bewährte Einsatzgebiete sind die Imagebildung, z.B. um die eigene Pionierrolle zu unterstreichen (Berliner Philharmoniker), oder das Audience Development, wo versucht wird, insbesondere junge Menschen im digitalen Raum „abzuholen“ und über kurz oder lang in die Häuser zu locken. Digitale Angebote als genuine, den traditionellen Formaten gleichgestellte Angebote zu sehen, das war und ist die Ausnahme – insbesondere in den Performing Arts. Teilweise wird das ausschließlich klassische analoge Kulturerlebnis sogar noch immer bewusst als Gegenwelt zu virtuellen Angeboten positioniert, die keine physische Präsenz an einem bestimmten Ort erfordern. Unter den Museen gibt es einige, die ihren Auftrag des Forschens, Sammelns, Bewahrens, Ausstellens und Vermittelns auch digital umsetzen und zum Beispiel keine Unterscheidung mehr zwischen Besuchern vor Ort und in den digitalen Ausstellungsräumen machen (vgl. dazu z.B. das Interview mit Silke Oldenburg im „Wie gehts’s?“-Podcast). Common Sense ist das nach meiner Wahrnehmung aber noch nicht.

Man kann den Kultureinrichtungen jetzt sicher nicht den Vorwurf machen, in den zwei Wochen seit dem Shutdown noch keine genuin digitalen künstlerischen Formate entwickelt zu haben. Man kann aber fragen, warum es nicht schon lange vor den Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 passiert ist – von den allseits bekannten Ausnahmen abgesehen. Offenbar braucht es den Druck durch eine externe Entwicklung, wie er jetzt durch den Shutdown entstanden ist. Das ist zwar einerseits etwas konsternierend, zumal die aktuelle Situation ja voraussichtlich massive Konsequenzen haben wird (s. dazu z.B. die Artikel im VAN-Magazin oder der Zeit, die Petition für Hilfen für Freiberufler und Künstler sowie den Spendenaufruf der Deutschen Orchester-Vereinigung). Andererseits lässt sie sich aber – wie eingangs gesagt – auch als Antreiber der Evolution verstehen und nutzen: Die aktuelle Situation ist ein guter Anlass zu überlegen, wie der digitale Raum nicht nur Exil, sondern zu einer zweiten Heimat für Kultureinrichtungen werden kann. Im zweiten Teil soll es deswegen darum gehen, was die Voraussetzungen sind, damit das gelingt.