Halb so wild: Klassische Musik doch nicht am Ende
Vor kurzem machten vier Kulturfunktionäre als «alte Wilde» Furore mit der Forderung, die Hälfte der Kultureinrichtungen zu schließen. Als ob das nicht genug sei, verkünden jetzt ein paar junge Wilde mit Hilfe von Jung/von Matt gleich das Ende der klassischen Musik:
httpv://www.youtube.com/watch?v=jWRcchep3is
Mit dem Clip wird die neue Staffel (!) einer jungen Konzertreihe des Konzerthauses Dortmund beworben. Wer in dieser Reihe Musik wie in dem Musikclip erwartet, wird allerdings enttäuscht. Letztlich sind es ganz normale Recitals von viel versprechenden jungen Künstlern auf dem Weg in eine Karriere im klassischen Konzertbetrieb. Das ist weder besonders wild, noch das Ende der klassischen Musik. Im Gegenteil. Es ist der – durchaus ehrbare – Versuch, das Ende der klassischen Musik noch möglichst lange hinauszuzögern. Dabei wirkt es direkt rührend, wenn man auf erste besorgte Nachfragen, ob in dem Clip tatsächlich wertvolle Instrumente zerstört worden seien, gleich beschwichtigend versichert, dass es sich natürlich nur um Attrappen gehandelt habe. Auch 40 Jahre nach Jimi Hendrix bleibt die Klassikwelt noch in Ordnung. Puhhh!
Wobei: In einigen us-amerikanischen und europäischen Metropolen formiert sich seit einiger Zeit eine Szene klassisch ausgebildeter Musiker, die die Grenzen neu ausloten, was sich mit Geigen, Klarinetten und was auch immer für Musik machen lasst. Indie-Classical nennt das der Musikjournalist Jayson Greene auf pitchfork und beschreibt, wie diese sich diese Szene von einem Randphänomen zu einem eigenen Genre entwickelt hat:
Over the past decade, indie-classical has grown past the point where it’s some miraculous new fruit on pop culture’s Big Tree. It’s a high-functioning cottage industry now, complete with its own roster of independent labels (New Amsterdam, Innova, Cantaloupe, Bedroom Community), familiar names (Nico Muhly, Hauschka, Owen Pallett, and Missy Mazzoli of Victoire, to name a highly visible few) and a round-the-clock PR department. Moments like Joanna Newsom’s 2007 concert with the Brooklyn Philharmonic used to feel rare. Now, something like it seems to come along every month.
Charakteristisch für dieses Genre ist, dass es keine charakterischen Merkmale gibt:
The interesting thing about this group of people, and New Amsterdam, is the real lack of interest in anything that you could call aesthetic categories, or rules about what does and doesn’t belong in their sphere of influence,
meint der New York Magazine-Autor Justin Davidson.
Wenn man sich bei youtube nach den einschlägigen Namen der Szene umguckt (z.B. Tyondai Braxton, Owen Pallett, New Amsterdam Records Videos etc.), dann kann man das schnell bestätigen. Allerdings stellt sich dann auch schnell die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Labelings. Wie auch immer. Als ich den Clip oben sah, habe ich eigentlich etwas indie-classical-mäßiges erwartet. Zwar ist auch Indie-Classical nicht das Ende der klassischen Musik, aber immerhin etwas vielleicht so etwas wie deren «dunkle Seite». Und eine Angebotsbereicherung, in die Konzerthäuser berechtigte Hoffnungen setzen könnten, wenn es darum geht, hippe, urbane junge Leute als Besucher zu gewinnen.
7 Kommentare
W. Herdegen · 30. März 2012 um 22:46
Es stimmt; die Klassische Musik ist am Ende; man soll sich doch mal die Altersgruppe anschauen, die in den Konzertsälen sitzt. Es sind meistens Rentner; Menschen unter 40 sind sowieso kaum vertreten. Wenn die Klassische Musik erstmal weg vom Blickfeld ist, wird sie nie mehr dorthin zurückkommen; eine tote Tradition kann man nicht mehr so leicht wieder “herstellen“. Schuld daran ist nicht der Zufall, sondern die Gesellschaft selbst.
Christian Holst · 31. März 2012 um 10:00
Ich teile die Meinung nicht, dass die klassische Musik am Ende ist. Sie war schon immer das Freizeitvergnügen der betagteren Altersgruppen. Und solche Entwicklungen wie Indie-Classical zeigen ja, dass es auch klassische Musik für junge, hippe Leute gibt. Trotzdem ist es natürlich ein Kulturgenre, das sehr vergangenheitsorientiert und so gesehen «museal» ist.
Wieland Aschinger · 31. März 2012 um 17:17
„…schon immer das Freizeitvergnügen der betagteren Altersgruppen“ – Die „klassische“ Musik ist für weitaus mehr Kinder und Jugendliche tägliches Freizeitvergnügen, als Angehörige der „betagteren Altersgruppen“ alle paar Wochen mal anderthalb Stunden in einem Konzert sitzen.
Christian Holst · 31. März 2012 um 19:07
Sicher werden sich viele Beispiele finden lassen, wo sich Kinder und Jugendliche mit klassischer Musik beschäftigen. Mir ging es um das Phänomen, dass in den Konzertsälen schon immer die älteren Semester eine deutliche Mehrheit gestellt haben.
Steven Walter · 5. April 2012 um 18:36
Danke für den Artikel!! Ergänzend dazu: http://bigthink.com/ideas/39969
Indie Classical könnte in der Tat ein Befreiungsschlag sein.. Schön ist ja, dass der Begriff im weiteren Sinne ja nicht die Abkehr von „vergangener Musik“ bedeuted, sondern nur ein neues, eben „indie“ und nicht-institutionelle Selbstbild für Kunstmusik hergibt. Das ist unbedingt notwendig, denn Grunde haben wir mit der Musik ja eigentlich nur eine massive Imagekrise, keine Substanzkrise.
Wir vom PODIUM Festival Esslingen sind übrigens einer der ersten Veranstalter, die das Phänomen aufgreifen. U.a. mit einer Indie Classical Jam im Rahmen des diesjährigen Festivals…
Christian Holst · 5. April 2012 um 19:36
Danke für den Kommentar und den Link! Sehr interessant. Ich denke, was die klassischen Klassikmusiker und -freunde nicht erwarten sollten, ist dass Indie-Classical ihnen in Scharen neues junges Publikum zuführt. Schön, wenn es passiert, aber erstmal ist Indie-Classical einfach Indie-Classical und nicht ein Coup der Musikvermittler. Aber es ist gut, wenn es selbstverständlich in Spektrum der „klassischen“ Musik gehört.
kulturblog.net – Schwindsucht statt Infarkt: Orchestersterben · 10. Mai 2012 um 11:19
[…] sollte, was der Inhalt nicht einlösen kann. (Siehe dazu meinen Blogbeitrag zum angeblichen Ende der klassischen Musik.) Sehr langfristig gedacht, und daher vermutlich am wirksamsten, sind gute Education-Programme. […]