«Man muss das Konzert verändern, um es zu erhalten.» Der Satz von Martin Tröndle ist zu einem Mantra der klassischen Musikszene geworden. Die Hoffnung scheint zu sein, dass die Innovationslogik normaler Märkte auch frischen Wind und neue Kunden in die altehrwürdige klassischen Musik bringt. Übersehen wird bei dieser Forderung, dass die «schöpferische Zerstörung» der Innovation das klassische Konzert bereits vor Jahrzehnten zum Stadion- oder wahlweise Wohnzimmer-Konzert weiterentwickelt hat. Um zwei Beispiele zu nennen: Glenn Goulds späte Interpretationen, z.B. der Goldberg-Variationen, sind ausschließlich auf Tonkonserve rezipierbar (gewesen) und ein ästhetisches Ergebnis nicht nur der technischen und interpretatorischen Fähigkeiten Glenn Goulds am Instrument, sondern auch der bewusst und offen genutzten Studio- und Schnitttechnik der frühen 80er Jahre.
www.youtube.com/watch?v=N2YMSt3yfko
Knappe zehn Jahre später schmetterten die drei Tenöre ihr «Nessun dorma» vor 6.000 Personen in den Nachthimmel über den Caracalla-Thermen (Veranstaltungsort!). Weitere knapp 800 Mio. Menschen sahen sich das Ereignis im Fernsehen an.
www.youtube.com/watch?v=LYAsFelf7no
Darüber hinaus haben die neuen technischen Möglichkeiten bereits lange vor Gould ganz neue Arten von Musik hervorgebracht. Der weitaus überwiegende Teil der zeitgenössischen Musik (nicht nur aus dem klassischen Sektor) ist ohne den Einsatz elektronischer Instrumente und Medien überhaupt nicht denkbar. Innovationen wie die elektronische Verstärkung haben nicht nur die Rezeption – Stichwort Stadionkonzerte -, sondern auch die Musik selbst radikal verändert. Dass diese Innovationen mit der klassischen Musik nichts zu tun haben, kann man nur glauben, wenn man die strikte Trennung zwischen E- und U-Musik für sinnvoll und die klassische Musik für eine abgeschottete Nische hält.
Aber selbst wenn man mal die Kategorie der E-Musik beibehält: Mehr oder weniger in zeitlicher Nähe zu Tröndles Aufruf sind inzwischen zahlreiche Initiativen entstanden, die klassische Konzerte zwar nicht unbedingt schöpferisch zerstören, aber doch unter anderen Vorzeichen präsentieren wollen. So zum Beispiel das Podium-Festival oder die Y-Night in der Schweiz, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mittlerweile handelt es sich dabei nicht mehr nur um eine Graswurzel-Bewegung: Gerade hat Yannick Nézet-Séguin in einer Keynote für die Classical Next neue Spielorte, neue Dresscodes und neues Repertoire gefordert. Und vor einigen Monaten gab es im Web eine von Radiohead-Mitglied Johnny Greenwood angestoßene Diskussion, ob man im Sinfoniekonzert zwischendrin klatschen dürfen sollte, spontaner programmieren könnte oder während der Konzerte nicht ein Smartphone benutzen dürfe.
Gareth Davies, Solo-Flötist beim London Symphony Orchestra, stellt mit durchaus einleuchtenden Argumenten in Frage, ob sich durch solche Ansätze wirklich etwas ändert. Für ihn bleiben die Innovationsversuche bei klassischen Konzerten sehr oberflächlich:
There seems very little invention and much more repackaging.
Und er führt diese These dann anhand einiger Beispiele näher aus, zum Beispiel:
Don’t get me started on fancy lighting. Why on earth anyone thinks that the holy grail of audiences for classical music – young people – who have been brought up on YouTube, video games, 3D films, iPhones and on demand content, are going to be impressed by subtly changing mood lighting during a symphony which never asked for it in the first place, is beyond me.
Später im Text berichtet er vom jährlichen Trafalgar Square-Konzert des London Symphony und ist sich sicher, dass die Hauptfaszination des Ereignisses mit 10.000 Besuchern sich im Kern nicht von der eines Sinfoniekonzerts in einem herkömmlichen Konzertsaal unterscheidet:
What we presented was great music performed at the top level conducted by the best.
Und so lange das den Kern des Erlebnisses klassischer Musik ausmacht, ist für mich auch die Frage, was denn eigentlich genau verändert oder erneuert werden muss? Natürlich, warum soll man Musik nicht visualisieren
www.youtube.com/watch?v=JhHFzLfQDVQ
oder Klassik im Club spielen und die Zuhörer dabei ein Bier trinken lassen? Dagegen spricht in meinen Augen genau so wenig, wie eine Mahler-Sinfonie im Wohnzimmer oder im Auto zu hören (letzteres offenbar eine Leidenschaft, die Udo Lindenberg und Angela Merkel teilen). Ich bezweifel nur, dass das die Zukunft der klassischen Musik ist (der Weg in eine neue Ära, wie es auf der Website von Klassik im Club heißt) und sie zu einem hippen Phänomen machen wird.
Dazu gibt es doch zu viel klassische Musik, die sich einfach am besten in der konzentrierten, stillen Atmosphäre eines Konzertsaals rezipieren lässt. Meine These ist: je grösser die Besetzung, desto bedeutender ist der geeignete Raum. Ich habe vor langer Zeit einmal Mahlers Vierte in einer Reithalle gehört. Es spielte das Deutsche Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Kent Nagano. Es war also sicher keine schlechte Interpretation. Was ich in Erinnerung habe ist allerdings die Schwalbenfamilie, die unter dem Dach der Reithalle nistete und keine Rücksicht auf Orchester und Publikum nahm, sondern alle paar Minuten die von der Futtersuche zurückkehrende Mutter lautstark begrüßte. Vor nicht so langer Zeit hörte ich die Vierte wieder einmal. Diesmal in der Zürcher Tonhalle, einem Saal mit einer Akustik, die derart transparent ist, dass ich Details hörte, die mir bei keinem vorherigen Konzert, in keiner Aufnahme und schon gar nicht in der Reithalle je aufgefallen waren. Ein anderes Beispiel: Ebenfalls vor langer Zeit hörte ich Mahlers Achte in der Kieler Ostseehalle unter der Leitung von Christoph Eschenbach. Es war also ziemlich sicher eine schlechte Interpretation. Aber die Halle gab dem Stück den Rest. Und wiederum ein positives Erlebnis war die Aufführung des gleichen Stücks im KKL Luzern, angeblich einem der weltweit besten Konzertsäle. Auch wer mal eine Aufführung im Bayreuther Festspielhaus miterlebt hat weiß, dass der Saal selbst ein Instrument ist, das die Qualität einer Aufführung maßgeblich mit beeinflusst. Insofern ist es zwar mal eine nette Aktion, wenn das Ensemble Spira mirabilis Beethovens 2. auf dem Piazza di Vicchio in Florenz spielt. Aber kreuzende Autos und Mofas sind kein Gewinn für die Musik und es hat wohl seinen Grund, dass das Ensemble normalerweise auch lieber in Konzertsälen oder Kirchen auftritt.
www.youtube.com/watch?v=xYBYq5-4IC4
Das eigentliche Problem der klassischen Musik liegt in meinen Augen weniger daran, dass die Verpackung unattraktiv geworden ist, als an zwei anderen Punkten:
Klassische Musik spielt als zeitgenössische Musik praktisch keine Rolle. Nicht einmal die Filmmusik hat sie sich nachhaltig erobern können. Schönberg, Korngold und Schostokowitsch schrieben auch für den Film. Die heutigen Filmkomponisten werden in der Klassikszene jedoch kaum wahr- geschweige denn ernst genommen. Alle Jubeljahre findet man vielleicht einmal John Williams Star Wars-Suite auf dem Programm eines Sinfonieorchesters. Ansonsten ist die zeitgenössische Musik eine weitestgehend durch öffentliches Geld und Stiftungsmittel am Leben gehaltene Nische ohne ästhetische Relevanz über deren Grenzen hinaus.
Das zweite Problem ist ein Missverständnis, dem auch viele Theater und Opernhäuser mit ihrem «musealen» Repertoire aufsitzen. Es ist der Glaube, einen Bezug zur Gegenwart vermitteln zu müssen und diese Musealität um jeden Preis zu vermeiden. Aber was soll ein Kunstwerk aus dem 18. oder 19. Jahrhundert denn anderes als (auch) museal sein? Es ist alt, es ist ästhetisch und technologisch nicht auf dem Stand unserer Zeit. Na und? Dass etwas museal ist heißt ja nicht, dass wir es nicht mehr ohne Weiteres verstehen können, dass es uns nicht berühren, faszinieren, anregen, abstoßen oder sonstwie erreichen kann. Ironischerweise geht das vielen Menschen viel eher mit der zeitgenössischen klassischen Musik so.
Der effektivste Hebel, der klassischen Musik wieder zu mehr Relevanz und Beliebtheit zu verhelfen, scheint zu sein, das aktive Musizieren von früh an zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens zu machen. Alle erfolgreichen Vermittlungskonzepte, von El Sistema bis Rhythm Is It oder Jedem Kind ein Instrument, setzen nämlich genau an diesem Punkt an. Und eine Studie der Uni St. Gallen bestätigt diesen Ansatz. Die kurz gefasste Erkenntnis der Studie lautet: Wer selbst ein klassisches Instrument lernt und als Kind aktiv (klassische Musik) musiziert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit sein Leben lang einen positiven Bezug zur klassischen Musik behalten, zumindest als Fan, vielleicht auch als aktiver (Amateur-)Musiker.
Eine aufgehübschte Verpackung kann demnach nicht die inhaltliche Vermittlung ersetzen. Vielleicht führen solche Aufhübschungen sogar eher in die Irre, weil sie wahrscheinlich ineffektiv bleiben werden, wenn es darum geht, die Relevanz der klassischen Musik zu erhalten. (Als ich mal eine Klassik im Club-Veranstaltung besucht habe, bestand das Publikum – so war zumindest mein Eindruck – mindestens zur Hälfte aus Mitarbeitern von Kultureinrichtungen, die sich dieses neue Format einmal anschauen wollten.) Und wenn die inhaltliche Vermittlung gelingt, ist die Verpackung wie es scheint ohnehin zweitrangig. Dann kann man ein konventionelles Sinfoniekonzert ebenso genießen, wie ein «Nessun dorma» beim Open Air-Konzert, ein Streichquartett im Club oder eine Glenn Gould-Aufnahme im Wohnzimmer.
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