Christian Holst

Kulturmanagement :: Digitale Transformation :: Künstliche Intelligenz


Blog

  • La Bohème im Multichannel-Livestream

    Vor einiger Zeit habe ich über das Konzert der Philharmoniker Hamburg berichtet, wo das Orchester über halb Hamburg verteilt war und, über Kameras koordiniert, Brahms Zweite spielte. Das Ganze konnte man sich online entweder registerweise oder in der Zusammenschau anhören und -sehen. Wo der künstlerische Mehrwert lag, hat sich mir nicht erschlossen.

    Gestern Abend hat das Berner Symphonieorchester zusammen mit arte.tv ein ähnlich konzipiertes Projekt mit La Bohème durchgeführt. «Bühne» war eine Wohnung im Berner Gäbelbachquartier sowie das Westside-Einkaufszentrum und umliegende Straßen; der «Orchestergraben» war ebenfalls in der Westside. Das alles wurde dann fürs Fernsehen zusammengeschnitten und auf arte gesendet. Bei der Fernsehübertragung einer Opernhandlung mit verschiedenen Schauplätzen schien mir dieser Ansatz weitaus schlüssiger als bei einer Sinfonie, denn auch wenn live gesendet wurde, fehlte der unmittelbare Live-Aspekt in dem Sinne, dass die Zuschauer am Ort der Aufführung anwesend sind. Da spielt es dann, wie bei einer CD-Produktion, auch keine Rolle, ob es sich um Flickwerk handelt. Dass man zusätzlich die Möglichkeiten des Internets nutzt, um dort mit einem Multi-Livestream das Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln zu präsentieren, ist dann ebenfalls nachvollziehbar und von der praktisch-technischen Seite her durchaus sehr interessant. (Im Netz gibt es sieben Kameraperspektiven von den unterschiedlichen Orten des Geschehens.)

    Eine normale Opernaufführung ist bereits ein hochkomplexes Ereignis. In diesem Fall war die Aufführung noch einmal sehr viel komplexer durch den immensen technischen Aufwand, die Schwierigkeit für die Sänger nur mit einem Knopf im Ohr zu einem Orchester zu singen, dass etliche hundert Meter entfernt sitzt, die Schwierigkeit für den Dirigenten ohne Blickkontakt alles beieinander zu halten etc. Das live zu senden zeugt von Mut und der wurde belohnt, denn es hat erstaunlich gut funktioniert.

    Wenn man allerdings solch einen ultra-realistischen Rahmen für eine Handlung wählt, dann springt eben jede inszenatorische Unstimmigkeit besonders ins Auge. Zur ersten Szene schrieb z.B. jemand Im Live-Chat:

    die haben aber eine schöne wohnung, dafür dass sie so arm sind 😉 warum machen sie nicht die zentralheizung an anstatt papier zu verbrennen?

    Auch im sozialen Wohnungsbau friert man heute eben nicht mehr. Ebenso wenn die am Weihnachtsabend spielende erste Szene dann in den Spätsommer-Garten wechselt, lässt sich das viel weniger übersehen, als auf einer Bühne, die die Realität eben doch erkennbar nur nachbaut. Zudem ist das Opernspiel und der Operngesang derart artifiziell, dass es in so einem authentischen Setting sehr befremdlich bleibt. Wie auch immer: So ein Event schafft Aufmerksamkeit für eine Kunstform, die es schwer hat. Das ist ein erster Schritt. Bleibt die Frage, wie nachhaltig das so erzeugte Interesse an Oper ist.

  • Serienreif: Die stARTconference

    Die zwei stART-Tage sind schnell vorbei gegangen – ein gutes Zeichen, wie ich finde: Der Prototyp kann und wird in Serie gehen. Den Erfolg der Konferenz belegen auch die Rückmeldungen via Twitter und im Konferenzblog, bei allem, was im Einzelnen noch zu optimieren ist. Ausführlichere Berichte zur Konferenz gibt es zum Beispiel auf Blogjournalisten, im sozlog von Tina Günther und bei ruhrbusiness-on.

    Mein kurzes, persönliches Fazit: Die große Resonanz belegt, dass mit dem Thema «Social Media und Kultur» ein Nerv getroffen wurde. Ich wüsste keine Konferenz, die sich vorwiegend an Einrichtungen aus dem Bereich der Hochkultur wendet und eine Teilnehmerzahl von knapp 500 erreicht. In diesem Jahr wurden nun vor allem jede Menge Möglichkeiten aufgezeigt und Ideen diskutiert und entwickelt, wie sich Social Media für Kulturunternehmen einsetzen lässt und in Ansätzen auch, welche Erfolgsfaktoren sich bereits identifizieren lassen. An diesem Punkt wird es meines Erachtens spannend sein, im nächsten Jahr anzusetzen. Dass man mit Social Media etwas bewirken kann, ist mittlerweile deutlich. Aber wie nachhaltig diese Wirkung ist, welche Qualität die Öffentlichkeit hat, die man aufbaut, welche Mittel und Wege es gibt, den Erfolg auch tatsächlich zu evaluieren und Ursache-Wirkungs-Verhältnisse nachzuvollziehen, all das sind Fragen, die erst aufgrund von Erfahrungswerten beantwortet werden können. Das heißt, es müssen sich jetzt erstmal, inspiriert durch die Konferenz, weitere Kulturunternehmen vorwagen und mit Social Media beschäftigen, damit diese Fragen auf den kommenden Konferenzen breit abgestützt diskutiert und beantwortet werden können. Dafür hat die stART.09 im Sinne eines Kick-Offs in meinen Augen eine gute Grundlage gelegt.

  • stARTconference hat begonnen

    Gerade hat mit einem hochinteressanten Vortrag von Gregor Hopf die stART.09 angefangen. Wer nicht live dabei sein kann, kann die Vorträge live im Internet mitverfolgen oder später (noch einmal) ansehen. Über die twitterwall kann man die Konferenz durch die Augen der anwesenden Teilnehmer mitverfolgen.

  • Beethovens Fünfte zum Angucken

    Als Waldorfschüler ist man aus dem Unterrichtsfach Eurythmie mit der Vorstellung vertraut, Musik könne (und solle) nicht nur hör-, sondern auch sichtbar gemacht werden. Auch jahrelanger Unterricht in diesem Fach konnte mich von dieser These allerdings nie überzeugen. Worin sollte da ein Fortschritt oder Vorteil liegen? Ins Zweifeln, ob nicht doch etwas dran sein könnte, hat mich erst diese animierte Partitur vom Allegro con brio aus Beethovens 5. Symphonie gebracht. Natürlich wird hier ebensowenig wie in der Eurythmie Musik sichtbar gemacht, es handelt sich um eine grafische Abbildung musikalischer Vorgänge bzw. musikalischer Koordination. Trotzdem: die Faktur des Stücks wird in einer Art und Weise deutlich, die dem Ohr nicht so deutlich wird. Zum Beispiel, dass wirklich fast jeder einzelne Takt dieses Satzes auf dem berühmten «Ta-ta-ta-taaa»-Motiv beruht. Das sieht man besser, als man es hört und veranschaulicht so die konsequente motivische Arbeit Beethovens. Die Frage bleibt natürlich, ob einem das Stück deswegen mehr sagt.

    httpv://www.youtube.com/watch?v=rRgXUFnfKIY

    Hier gibt es übrigens noch eine Legende zu der Animation.

  • Ein Buch als Blog: Verratene Vermächtnisse

    Mein Lieblingsblog ist ein Buch: «Verratene Vermächtnisse» von Milan Kundera. Natürlich handelt es sich dabei nicht um ein Blog, sondern um eine Sammlung hochspannender Essays. Ich komme aber auf die Aussage, weil das Buch einem in meinen Augen idealen Blogstil sehr nahe kommt: es ist sehr subjektiv und streitbar, meinungsfreudig und klug, ohne gelehrig oder theoretisch zu sein – einfach richtig gut geschrieben.

    Inhaltlich dreht sich das Buch um die Vermächtnisse der Künstler Kafka, Strawinsky und Janácek, alle drei heute unbestritten große Künstler. Das war nicht immer so, zunächst waren sie eher verkannte Genies, deren Werk unverstanden blieb. Überlebt hat es aufgrund engagierter Förderer, die es gut meinten und die Werke in bester Absicht etwas zurechttrimmten. Künstlerisch haben sie damit freilich zunächst Schaden angerichtet, die Werke verfälscht und verkitscht, die Vermächtnisse eben verraten. Andererseits haben die Werke nur so eine größere Öffentlichkeit erreicht und können heute textkritisch herausgegeben oder quellengetreu aufgeführt werden. Max Brod beispielsweise ist Kafkas ausdrücklichem Wunsch nicht nachgekommen, seine Werke nach seinem Tod zu verbrennen. Er hat sie stattdessen veröffentlicht, wenngleich mit verfälschenden und entstellenden Eingriffen. Das gilt ähnlich für Janáceks Opern, die Brod ins Deutsche übersetzt und damit im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. Unter künstlerischen Gesichtspunkten war das wirklich verwerflich, weil Janácek seine Musik ganz wesentlich aus der Tonalität der gesprochenen tschechischen Sprache entwickelt. Auf lange Sicht gesehen hat Brod aber beiden Künstlern zu der ihnen gebührenden Geltung verholfen.

    Kundera ist in seinem klaren, kompromisslosen Urteil über Brod deswegen nicht gerecht. Kafkas und Janáceks Werk zu bewundern, aber Brod dafür zu verachten, dass er sie unter Missachtung der künstlerischen Anliegen bekannt gemacht hat, das passt nicht recht zusammen. Aber gerade weil Kundera sich der Widersprüchlichkeit seiner Argumentation bewusst ist und sie streitbar bleibt, ist dieses Buch ein großes Lesevergnügen!

  • Was macht die «Mitmach-Avantgarde» mit der Kunst?

    Vioworld veranstalten gerade eine Blog-Parade zum Thema Net Powered Artists. Dazu heißt es dort:

    Im Raum steht die provokante Behauptung, dass Kunst im Netz zwar neue und spannende Erscheinungsformen – wie z.B. den Mashup – hervorbringt, aber letztenendes zur “Brotlosigkeit” verdammt ist. Heimliches Ziel dieser Blogparade ist es natürlich, diese These anhand aktueller Beispiele zu widerlegen.

    War die „Brotlosigkeit“ nicht immer schon das Damoklesschwert, das über dem Künstler schwebte? Im GDI Impuls las ich jedoch kürzlich einen Essay von Charles Leadbeater zu Kunst und Social Web, der nahelegt, dass die Kommerzialisierbarkeit von künstlerischer Arbeit eher noch schwerer wird, die Probleme der Musikkonzerne und die Diskussionen um ein Urheberrecht 2.0 deuten ebenfalls in diese Richtung. Digitalisierte Inhalte lassen sich problemlos vervielfältigen. Die Refinanzierung der künstlerischen Arbeit, die immer inhaltlicher Natur ist, muss also über etwas erfolgen, das sich nicht kopieren lässt. Nicht eben einfach und wahrscheinlich auch nicht sehr lukrativ. Kunst war bislang die Sache von verschrobenen Einzelgängern und die großen Kunstwerke der abendländischen Kulturgeschichte sind allesamt geniale Einzelleistungen. Gute Kunst wurde auf diese Weise zu einem knappen Gut, mit der immerhin einige wenige gut Geld machen konnten.

    Gegen dieses traditionelle Paradigma stellt Leadbeater eine neue partizipative Kultur, die durch das soziale Netz bedingt und verbreitet wird, und sich immer mehr durchsetzt:

    Diese «Mitmach-Avantgarde» wird durch die Art und Weise gespeist, in der das Internet partizipatorischen Ansätzen zur Kunst, einer digitalen Version der Volkskultur, in der Urheberschaft geteilt und kumuliert und keine individuelle Angelegenheit ist, neue Energie verleiht. (…) Der Künstler wird eher zum DJ oder Programmierer, er stellt ein Werk aus den bereits vorhandenen Modulen zusammen.

    Es liegt auf der Hand, dass tragfähige Geschäfts- und Vermarktungsmodelle mit dieser neuen Webkultur grundsätzlich unvereinbar sind. Wo keine Urheberschaft individuell zugordnet werden kann und wo Massen für Massen produzieren, kann und soll auch kein Profit privatisiert werden. Damit wird durch den partizipativen Ansatz des sozialen Webs ein ganz zentrales Paradigma der abendländischen Hochkultur in Frage gestellt. Das klingt erstmal sehr sympathisch und beflügelt Leadbeater zu einer bald schon eschatologischen Sozialutopie des produktivsten Miteinanders in vollendeter Demokratie.

    Tatsächlich wird das «Empowerment» durch das soziale Web deswegen wohl weniger ökonomischer als vielmehr inhaltlich-ästhetischer Natur sein und die Künste zwingen – zumindest für einige Zeit – weniger «die Gesellschaft», als sich selbst zu hinterfragen. Das ist so lange begrüßenswert, wie herausragende künstlerische Leistungen durch vergesellschafteten Zugriff nicht systembedingt auf Mittelmaß nivelliert werden und Kennerschaft zu einem nachrangigen Kriterium verkümmert, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von Kunst. Adam Soboczynskis Sorge um den Intellektuellen gebührt möglicherweise auch dem Kunstkönner und -kenner.

  • Noch einmal Dirigenten

    Im Rahmen der Diskussion, die ich vor einiger Zeit mit meinem Beitrag über Dirigenten als Vorbilder für Manager angestoßen habe, fragte ich mich im Nachhinein, warum die Bedeutung von Dirigenten so wahnsinnig hoch eingestuft wird. Es scheint fast, als seien Dirigenten heute der Inbegriff positiver, charismatischer Herrschaft schlechthin – zumindest unter Musikkennern und Kulturmanagern. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird der Begriff Dirigieren dagegen für engmaschig kontrollierende »Old-School«-Führung benutzt.

    Dabei gab es diesen Beruf lange Zeit überhaupt nicht und die meiste Zeit, die es ihn gibt, wurde ihm lange nicht solche Bedeutung beigemessen. Der Beruf kam überhaupt erst im 19. Jahrhundert auf, und seine Funktion war zunächst eine vergleichsweise unbedeutende Koordinationsaufgabe, das Taktschlagen. Die Musik haben schließlich die Musiker gemacht. Bei Aufführungsankündigungen gab es deswegen lange Zeit auch keinen Grund, ihn überhaupt geschweige denn an prominenter Stelle anzugeben. Wichtig waren Werk und Komponist, danach kamen die aktiven Musiker, speziell die Solisten. Das ist heute oftmals umgekehrt, obwohl der Komponist freilich die einmaligere, spezifischere künstlerische Leistung erbracht hat. Auf zahlreichen CDs prangt das Bild des Dirigenten und sein Namen ist nur selten kleiner angegeben als der des Komponisten und in aller Regel größer als der des Orchesters oder des Solisten. Für Konzertplakate gilt das entsprechend.

    In meinen Augen ein weiterer Hinweis darauf, wie museal (im neutralen Sinne) die Hochkulturlandschaft ihrem Wesen nach ist. Die künstlerischen »Heilserwartungen« werden auf den Beschwörer der Musik projiziert, weil es jenseits über kleine Nischen hinaus relevante Schöpfer von Musik in diesem Bereich praktisch nicht mehr gibt.

  • Neuer Studiengang in Theatermanagement

    Vor einiger Zeit habe ich bemängelt, dass Strategiearbeit in den mittlerweile sehr zahlreichen Kulturmanagement-Ausbildungen keine Rolle spielt. (Eine Ausnahme macht die FH Merseburg.) Neuerdings gibt es einen Lehrgang Theater- und Musikmanagement an der LMU – wieder ohne Strategie. Man spricht zwar von «innovativen Konzepten» und «zukunftsorientierten Lösungsansätzen» und zeigt sich selbst sehr innovativ mit einem Blendid-Learning-Ansatz, d.h. einer integrierten Form aus Präsenzveranstaltungen und E-Learning. Die Dozenten sind hochkarätig, wenngleich sie alle in den Dunstkreis des Münchner Kulturklüngels zu gehören scheinen. Aber gut, von den Funktionären des Münchner Kulturlebens kann man sicher viel lernen. Unter den deutschen Städten hat nur Berlin noch mehr Kultur zu bieten. Trotzdem: die Strategiearbeit bleibt wieder auf der Strecke. Aber wer mit dem Gedanken spielt, sich dort zu bewerben, kann ja mal an folgender, strategisch relevanter, Fragestellung üben: Kann sich die Investion der Studiengebühren und Aufenthaltskosten in München je rentieren, angesichts der niedrigen Löhnen, die einem am Theater winken? 😉

  • Kehlmann füllt das Sommerloch im Feuilleton

    Mit seiner Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hat Daniel Kehlmann einen erbosten Aufschrei der deutschen Feuilletonisten provoziert. Eine gute Zusammenfassung der Reaktionen gibt es bei nachtkritik.de. Viele sprechen für sich; besonders witzig zu lesen fand ich Joachim Lottmanns «Schützenhilfe».

    Wenn man die Rede liest, scheint es, dass trotz laufender Festivalsaison auch im Feuilleton das Sommerloch herrscht und dem «Regietheater», trotz aller unbestreitbaren Anstrengungen, mittlerweile die Kraft für genügend Aufreger und Gesprächsstoff ausgegangen ist.

    Dabei plädiert Kehlmann – sehr diplomatisch eigentlich – nur für mehr ästhetische Offenheit und weniger Ideologie auf der Bühne. Er sagt:

    Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, eher darf man Jörg Haider einen großen Mann oder George W. Bush intelligent nennen, als leise und nüchtern auszusprechen, dass die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen.

    Wie richtig diese Erkenntnis ist, zeigt ein Blick auf die kurzen Videos im Youtube-Channel des Covent Garden Opera House, auf den ich kürzlich im Kulturmanagementblog aufmerksam geworden bin: pralles, ideenreiches, lebendiges, dünkelfreies Theater.

    Des weiteren meint Kehlmann, dass die relvante ästhetische Auseinandersetzung mit heutigen Fragen und Themen trotz allem Bemühen um «Heutigkeit» kaum noch im Theater stattfindet (Liest er etwa dieses Blog? 😉 ):

    Und unterdessen bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, (…) ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart.

    Ein Theaterkritiker muss gegen diese Feststellung allein schon aus ganz existenziellem Interesse anschreiben. Sie zu widerlegen wäre dabei eine rein empirische Angelegenheit, aber so lange sich keiner ihrer annimmt, wird der Ideologieverdacht des Theaters nicht aus der Welt zu schaffen sein. Also: Welches war die letzte Theater-Inszenierung, die eine bemerkenswerte gesamtgesellschaftliche Relevanz entfalten konnte? Mein Tipp: Eine solche Analyse wird den Verdacht nur erhärten.

  • Kultur wird Werbung wird Kultur

    In der Ausgabe Nr. 30 der ZEIT war ein Portrait über Amir Kassaei zu lesen, dem Kreativchef von DDB Deutschland. (Leider ist es online nicht verfügbar.) Werbung werde sich zukünftig mehr an den echten Bedürfnissen der Verbraucher orientieren müssen, leiser werden und auf «Relevanz» (= Inhalte) statt auf «Awareness» (= bloße Aufmerksamkeit) setzen. Er scheut sich dabei nicht vor großen Worten, wenn er in diesem Zusammenhang vom «Streben nach Wahrhaftigkeit» spricht. War das nicht immer der Job der Kultur? Dieser Anspruch klingt für mich jedenfalls wie eine Kampfansage an den Kulturbetrieb, der einen großen Teil seiner Deutungshoheit ohnehin bereits an die Werbeindustrie hat abtreten müssen. Gegenwartskultur wird inzwischen erheblich durch die Werbeindustrie geprägt oder aber innerhalb kürzester Zeit von dieser vereinnahmt. Die Grenzen zwischen Kultur und Kommerz, die nach Horkheimer und Adorno so klar zu ziehen waren, verwischen zusehends.

    In einem anderen Interview wird Kassaei nach der besten Online-Kampagne aller Zeiten gefragt und führt den uniqlo screensaver als Beispiel gelungener Werbung im obigen Sinne an. Tatsächlich ist der Screensaver des Kleidungs-Labels mit schönen Bildern und kurzen Tanzperformances in uniqlo-Kleidung ein schönes Beispiel für dezente, kulturell geschmackvoll aufgeladene Werbung, ein stilsicherer Mash-Up aus Gebrauchswert, Reklame und kulturellem Inhalt. Vielleicht liegt darin nicht nur die Zukunft der Werbung, sondern auch die der Kultur? Näher am «Verbraucher» durch Kombination mit Gebrauchsgegenständen und anders finanziert durch Kombination mit Werbung?