Kultur wird Werbung wird Kultur
In der Ausgabe Nr. 30 der ZEIT war ein Portrait über Amir Kassaei zu lesen, dem Kreativchef von DDB Deutschland. (Leider ist es online nicht verfügbar.) Werbung werde sich zukünftig mehr an den echten Bedürfnissen der Verbraucher orientieren müssen, leiser werden und auf «Relevanz» (= Inhalte) statt auf «Awareness» (= bloße Aufmerksamkeit) setzen. Er scheut sich dabei nicht vor großen Worten, wenn er in diesem Zusammenhang vom «Streben nach Wahrhaftigkeit» spricht. War das nicht immer der Job der Kultur? Dieser Anspruch klingt für mich jedenfalls wie eine Kampfansage an den Kulturbetrieb, der einen großen Teil seiner Deutungshoheit ohnehin bereits an die Werbeindustrie hat abtreten müssen. Gegenwartskultur wird inzwischen erheblich durch die Werbeindustrie geprägt oder aber innerhalb kürzester Zeit von dieser vereinnahmt. Die Grenzen zwischen Kultur und Kommerz, die nach Horkheimer und Adorno so klar zu ziehen waren, verwischen zusehends.
In einem anderen Interview wird Kassaei nach der besten Online-Kampagne aller Zeiten gefragt und führt den uniqlo screensaver als Beispiel gelungener Werbung im obigen Sinne an. Tatsächlich ist der Screensaver des Kleidungs-Labels mit schönen Bildern und kurzen Tanzperformances in uniqlo-Kleidung ein schönes Beispiel für dezente, kulturell geschmackvoll aufgeladene Werbung, ein stilsicherer Mash-Up aus Gebrauchswert, Reklame und kulturellem Inhalt. Vielleicht liegt darin nicht nur die Zukunft der Werbung, sondern auch die der Kultur? Näher am «Verbraucher» durch Kombination mit Gebrauchsgegenständen und anders finanziert durch Kombination mit Werbung?
13 Kommentare
beisasse · 2. August 2009 um 15:39
zum thema (web 20.0-)kultur und werbung stolperte ich eben über diesen artikel:
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,637444,00.html
Petra · 2. August 2009 um 16:36
Hmmm, Kultur hat doch manchmal mit Kunst zu tun? Und wie frei darf Kunst eigentlich sein?
CH · 3. August 2009 um 12:23
Offenbar werden die Grenzen zwischen Kultur/Kunst und Werbung/Kommerz nach wie vor mit schwerem ideologischem (oder positiver gesagt normativem) Geschütz verteidigt. In meinen Augen auch nicht zu Unrecht. Trotzdem werden die Grenzen fließender werden und wenn die Kulturszene sich nicht total blöd und verbohrt anstellt, dann kann sie davon zumindest finanziell profitieren. So z.B. mit den sicher recht lukrativen Managementseminare der Deutschen Kammerphilharmonie oder den Dirigierseminare für Manager, über die ich neulich schrieb. Ich habe da schon bezweifelt, dass das künstlerisch oder managementbezogen wirklich sinnvoll ist. Aber das Geschäftsmodell scheint ja zu funktionieren.
Petra · 5. August 2009 um 17:19
Das Theater in Baden-Baden trainiert Manager mit Shakespeare. Aber zumindest da behauptet keiner, dass dabei Kunst geschaffen wird. Natürlich sind das schöne Programme, die beiden Seiten sehr viel mehr bringen als reines Sponsoring.
Ich bezweifle allerdings, dass man Kunst wirklich *schaffen* kann, wenn man als Künstler irgendeine Schere im Kopf hat oder die Distanz verliert. Das bewusste, aktive Streben nach kommerziellem Erfolg kann so eine Schere sein (was nicht ausschließt, dass man ihn zulässt).
Aber ich denke jetzt vom Künstler und Schöpfer aus, nicht vom Kulturbetrieb, der Kunst irgendwie vermarkten muss.
CH · 5. August 2009 um 19:57
Das stimmt, das denke ich auch. Trotzdem ist doch umgekehrt die Frage, ob ein Unternehmer mit solch einer Schere im Kopf auf eine wirklich gute Geschäftsidee kommt? Möglicherweise hat er dann einfach noch bessere Ideen, was die finanzielle Verwertung des kreativen Einfalls angeht. Ich sträube mich einfach gegen die Vorstellung, dass die Künstler die Kreativität und Originalität für sich gepachtet haben und anderen jetzt mal erzählen wollen, wie es geht. Gerade wie in diesem Fall bei Orchestern, die bestehende Kunst aufführen, stimmt das besonders wenig.
Übrigens: es ist schon merkwürdig, wer mittlerweile alles glaubt, Manager ausbilden zu können. Heute stieß ich auf diesen Bericht aus der Sendung Bauerfeind, in dem Leute zu Wort kommen, die glauben, dass Counterstrike-Spieler die perfekten Chefs von morgen seien.
VioWorld · 6. August 2009 um 13:08
@BEISASSE:
Danke für den Link. Diese Vodafone-Geschichte ist ja wirklich zur Posse geraten. Ich finde es spannend zu beobachten, wie fragil die schöne heile Welt der Web-Community doch ist. Näher betrachtet tummeln sich hier zahlreiche eitle Selbstdarsteller – das gilt sowohl für Herrn Lobo, als auch für seine neuen Gegner (und ehemaligen Anhänger), die sich als nonkonformistisch verstehen und nun die Geißel schwingen.
@PETRA: Ich bezweifle, ob eine Trennung von Kunst und Kommerz jemals bestanden hat, waren doch alle großen Künstler der Vergangenheit von Michelangelo bis Wagner gleichzeitig große Vermarkter. Der Mythos vom „genialen Schöpfer“, der sich nur seiner Kunst verpflichtet fühlt, entspringt zum großen Teil der Selbststilisierung der Künstler selbst (Wagner!)
VioWorld · 6. August 2009 um 13:09
Pardon, die Anonymität war nicht beabsichtigt – ich bin Hagen Kohn
CH · 6. August 2009 um 20:35
@vioworld Der kommerzielle Erfolg war aber sicher nicht das Ziel, weder von Wagner, noch von Mozart oder Michelangelo, er war ein angenehmer Nebeneffekt. Ich denke, darauf zielte die Bemerkung von Petra. Wenn die künstlerische Idee Mittel zum kommerziellen Zweck wird, dann ist man eben bei Dieter Bohlen und Consorten.
Patricia · 10. August 2009 um 15:36
Ich glaube Adorno & Horkheimer waren schon auf dem Weg, das Verwischen der Grenze zwischen Kultur und Kommerz zu beschreiben, allein schon wenn sie den Begriff Kulturindustrie gebraucht haben.
VioWorld · 12. August 2009 um 13:18
@Patricia
Adorno hat auch den Jazz als Unterhaltungsmusik bezeichnet. Das entspricht seinem absoluten Anspruch an die Kunst/den Künstler, den ich eben nicht teile. Auch ein intelligenter Mensch ist nicht zwangsläufig gefeit vor Borniertheit. (Man merkt, dass ich Adorno nicht mag, gell?) 🙂
CH · 12. August 2009 um 17:21
Hm. Das eine ist Geschmack, das andere eine musikwissenschaftliche Analyse, oder? Aber das lässt sich in Diskussionen über Musik nie auseinanderhalten. Aber Adorno hat ja eine ganz einleuchtende Begründung für seine Meinung…
VioWorld · 13. August 2009 um 11:37
Das stimmt, er war schon ein Meister der Analyse. Ich lehne A. auch nicht ab – im Gegenteil. Sehr schön finde ich „Der Meister des kleinsten Übergangs“ über seinen Freund Alban Berg.
Fest steht, dass sein Zugang zur Musik kein intuitiver war, weshalb er sog. U-Musik auch nicht wertschätzen konnte. Wenn man sich dem Jazz mit formaler Analyse nähert, versteht man einfach nicht, worum es geht. Aber das ist natürich auch im historischen Kontext zu sehen…
CH · 13. August 2009 um 12:24
Soweit ich das kenne, ist Adornos Argument eher inhaltlich, wenn er sagt, die Improvisation sei nur eine Pseudo-Improvisation bei der man einfach standardisierte Skalen rauf- und runterspielt. Mit dem, was du über den intuitiven Zugang sagst: kann direkter Zugang zu Musik (also Musikhören) denn überhaupt anders sein als intuitiv? Ich meine, dass das Sprechen über Musik zwangsläufig analytisch sein muss. Selbst Michael Jackson als King of Pop zu bezeichnen ist eine analytische Aussage. Ich glaube, genau darin liegt die Schwierigkeit, sich über Musik auszutauschen: das Wahrnehmen und Hören ist IMMER intuitiv, d.h. es gefällt mir oder eben nicht, spricht mich an oder nicht und das Sprechen darüber ist IMMER analytisch, weil es nicht direkt an die Wahrnehmung von Musik gekoppelt ist. Adorno hatte eine intuitive Abneigung gegen Jazz, aber seine Begründung ist ein analytischer Versuch, den Grund dafür zu beschreiben.