«Streng nach dem Lustprinzip» – Interview mit Steven Walter

Veröffentlicht von Christian Holst am

Im Rahmen der Kulturunternehmer-Interviewreihe spreche ich diesmal mit Steven Walter, dem Gründer und künstlerischen Leiter des Podium Festivals Esslingen. Das Festival hat sich zum Ziel gesetzt, neue Aufführungsformate für die klassische Musik zu entwickeln.

Es gibt Musikfestivals zuhauf. Was war der Antrieb, ein weiteres zu gründen?
Es ging zunächst nicht vornehmlich darum, ein Festival zu gründen. Ziel war, das „klassisch“ genannte Konzert neu zu denken und eigene Ideen umzusetzen, also ein Podium für Konzertinnovationen zu schaffen. Das Festival hat sich dann einfach als brauchbares Format für ein solches Laboratorium erwiesen. Antrieb war also nicht, einfach noch ein Festival zu gründen, sondern neue Ideen, Inhalte und Strukturen zu entwickeln.

Mit Blick auf die Frage des Kulturunternehmertums interessiert mich Ihre Herangehensweise. Wie sind Sie vorgegangen, um Ihre Idee zu realisieren? 
Wir sind streng nach dem Lustprinzip vorgegangen. Das Potential, Menschen auf ein gemeinsames Ziel zu synchronisieren, kommt aus gemeinsam angestrebten Inhalten. Wir waren einfach ein Haufen Freunde, die Lust auf Initiative und Eigenständigkeit hatten. Diese Dynamik ist für jedes Kultur start-up meines Erachtens Bedingung. Man redet im Management ja viel von Methoden und Prozessen – aber zunächst braucht man hauptsächlich gute Leute, die richtig wollen und wissen, worum es im «Großen und Ganzen» geht. Das natürlich notwendige Management kommt dann später, wird gewissermaßen drübergestülpt.

Haben Sie einen Businessplan geschrieben?
Zunächst nicht. Wir haben anfangs reichlich naiv und wie uns der Schnabel gewachsen losgelegt, Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Wir dachten, es sei ein Spaziergang, am Ende war es eine alpine Bergbesteigung. Alles wurde unterwegs gelernt. Zum Glück fingen wir aber früh an, strategisch und durchaus auch unternehmerisch zu denken. Diese Drauflos-Arbeit geht aber nur in der Startphase. Irgendwann muss eine langfristig tragfähige Struktur her. Daher sitzen wir jetzt, nach fünf Jahren, erstmals an einem Businessplan, um die PODIUM Arbeit auf langfristig festen Boden zu verankern.

Wie haben Sie die Finanzierung des Festivals auf die Beine gestellt?
Es gibt hierzulande im Kulturbereich zum Glück noch genügend fördernde Stiftungen und öffentliche Töpfe, bei denen man mit neuen Ideen hausieren gehen kann. Am Anfang haben wir einfach sehr viele Anträge geschrieben. Inzwischen haben wir eine außerordentliche Mischfinanzierung, wobei weit über 80% aus Drittmittel kommt oder selbst erwirtschaftet wird. Wir versuchen auch neue Wege im Fundraising zu gehen – so waren wir zum Beispiel Deutschlands erste klassische Musikinstitution, die erfolgreich Crowdfunding betrieb.

Was war das für ein Projekt oder für eine Veranstaltung, die Sie über Crowdfunding finanziert haben? Um welche Summe ging es dabei? Wie waren Ihre Erfahrungen und ‚Lessons leasend‘?
Das war unsere erste Clubveranstaltung namens „PODIUM 360° – Classical Club Concert“. Das Veranstaltungformat war damals für uns Neuland und zudem gab es wegen der technischen Mehrkosten eine Finanzierungslücke. Begeistert von der damals im Jahre 2010 in Deutschland sehr neuartigen Technologie Crowdfunding, ließen wir es auf einen Versuch ankommen. Es hat geklappt, die benötigten 5.500 € kamen zusammen. Schön war der Nebeneffekt, dass damit zugleich die Tragkraft der Idee getestet wurde. Somit hat Crowdfunding auch stets das Potential, ein Art sozialer „proof of concept“ zu sein. Außerdem wurde die Veranstaltung so schon während der Konzeptionsphase öffentlich beworben. Man darf den ziemlich hohen Aufwand nicht unterschätzen – wenn es nur ums Geld ginge, gibt es sicher leichtere Bezugsquellen. Crowdfunding ist aber deswegen interessant und wird sicherlich zunehmend relevant werden, weil es Marktforschung, Marketing und Finanzierung ziemlich elegant verbindet und Gemeinschaft zwischen Macher und Publikum stiftet.

Mit welchen Problemen hatten Sie bei der Realisierung Ihrer Idee zu kämpfen? Wie haben Sie sie gelöst?
Das größte Problem war zunächst überhaupt ernst genommen zu werden, vor allem in der Anfangsphase. Die klassische Musikszene ist sehr stark institutionalisiert, man spricht vom Erhalt der gegeben Infrastruktur – da ist wenig Raum für eine Neuerung durch neue Initiativen. Da wir auch ein recht beliebiger Haufen junger Leute waren, die mal eben ohne jegliche Referenz den Konzertbetrieb erneuern wollten, war die Skepsis natürlich sehr groß. Wir mussten unseren Platz hart erkämpfen, wobei die zahlreichen Auszeichnungen (ECHO Klassik, red dot award etc.) freilich halfen.

Wer sind die Besucher des Podium Festivals? Sind es vor allem traditionelle Konzertbesucher oder sind es die von klassischen Konzertveranstalter so heiß begehrten jungen Leute? 
Wir haben dieses Jahr ausführlich und wissenschaftlich unser Publikum befragt. Dabei kam heraus, dass wir ein in der Tat außergewöhnlich gemischtes Publikum haben. Zwar kommen die meisten wie erwartet aus höheren Bildungsschichten, aber wir erreichen nachweislich sehr viele Leute, die sonst sehr selten oder nie in klassische Konzerte gehen. Klar wurde dabei auch, dass es nicht das eine PODIUM-Publikum gibt, sondern sich die Zuhörerschaft je nach Format stark ändert. Das entspricht unserem Anspruch, ein vielseitiges und dennoch anspruchsvolles Formatspektrum anzubieten. In unserem Clubkonzert hatten wir einen Altersschnitt von 32 Jahren, was gemessen an der Kammermusik-Konkurrenz ein sensationell junges Publikum ist.

Woher kommen die Ideen für die neuen Programmformate? Gewinnen Sie die Ideen bei anderen Festivals im Ausland? Oder lassen Sie sich aus anderen Branchen inspirieren? Ich komme drauf, weil Sie beispielsweise ein Konzertprogramm mit dem Titel „Occupy!“ haben.
Mein Job und meine Leidenschaft als „künstlerischer Leiter“ ist es, über das Konzert als Rezeptionsform aber auch als sozial-ästhetischer Ort nachzudenken. Unsere Formate sind Produkt dieser Überlegungen, die dann durch unser transdisziplinäres Team verfeinert und verdichtet werden. Wenn einmal die Vorgegebenheit des „klassisches Konzerts“ in Frage gestellt wird, fallen einem sofort viele naheliegende und vielleicht viel spannendere Rezeptionssituationen für diese großartige Musik ein.

Ich habe irgendwo ein Zitat von Ihnen gelesen, wo Sie sagen: „Die klassische Musik ist gut so, wie sie ist, sie muss nur anders präsentiert werden.“ Aber bietet der Konzertsaal nicht ideale Aufführungsbedingungen für klassische Musik? In Bezug auf die Akustik, die Infrastruktur, die Ausstattung etc.
Nun, mich nervt das Gerede von der „Krise der klassischen Musik“. Ich kann keine Krise in Schuberts Streichquintett erkennen. Ich höre auch nicht, dass Bachs h-moll Messe oder Bergs Violinkonzert plötzlich schwächelt. Die Musik ist da und sie ist großartig. Wir, die wir damit umgehen, die wir sie vermitteln, haben die Krise. Weil wir lange Zeit viel zu borniert und unglaublich phantasielos waren. Das ändert sich – Krise sei Dank – allmählich. Wir lösen jedenfalls nicht die Probleme, in dem wir versuchen, vergangene Bedingungen wieder herzustellen. Konzerthäuser sind wunderbar, sie gehören nur leider oft zu diesen vergangenen Bedingungen. Sie laufen Gefahr zu musealisieren. Und Museumsmusik interessiert mich nicht. Ich will erkunden, was Bach, Schubert und Berg (und alle anderen) uns heute und hier zu sagen haben. Wenn nötig – und es erscheint mir meistens so – müssen wir dafür hinaus aus dem Konzertsaal.

Du sprichst von der Gefahr des Musealisierens. Die historische Aufführungspraxis verfolgt allerdings den Ansatz, vergangene Bedingungen soweit das irgendwie möglich ist, wieder herzustellen und die Musik klingt oftmals frischer – wenn man so will heutiger und moderner – als je zuvor. Deswegen: Was ist schlecht am Museum als Kontext für Kunstwerke, die vor langer Zeit geschaffen wurden?
Die meines Erachtens richtig verstandene historische Aufführungspraxis handelt nicht von der Wiederherstellung vergangener Bedingungen, sondern ist Kunst-immanent: das heißt, der Notentext, die Wissenschaft, vor allem aber die Sensibilität des musikalischen Ohres verlangen nach Differenzierung. Klar soll Bach nicht wie Brahms klingen. Ich bin ein großer Freund der historisch informierten Aufführung alter Musik, weil sich die Musik darin viel natürlich und frischer entfaltet. Es geht mir also nicht um Fragen der musikalischen Intepretation (Ausführung), sondern die der Konzertkultur (Aufführung). Musik ist eine Zeitkunst – und als solche extrem an der Aufführung gebunden. Das Kunstwerk, überliefert durch Notentext, entsteht im Moment der Aufführung – sie ist dann nicht „klassisch“, sondern extrem aktuell und momentan. Wenn wir in diesem Konzertmoment ein unnatürliches, museales, hermetisches Umfeld haben, dann entsteht eine Dissonanz zwischen dynamischer Kunst und künstlicher Umgebung, die der Kunstentfaltung überhaupt nicht gut tut.  Zumal das Ironische ja ist, dass ein Großteil unserer „klassischen Musik“ überhaupt nicht für den klassischen Konzertsaal geschrieben wurde. Vielleicht „funktioniert“ zum Beispiel Bach im Club so gut, weil die Musik tatsächlich in ganz ähnlich intimen Lounge-Situationen erstmals gespielt und gehört wurde. Wir müssen uns keine Parücken aufziehen und Zeitreise spielen, um diese Musik wirken zu lassen. Wir müssen vor allem natürlich und selbstbewusst mit ihr umgehen, dann entfaltet sie sich von selbst im Hier und Jetzt.

Und wenn man an der Musik nichts ändern muss, wieso wird dann trotzdem auch ganz andere, neue Musik gemacht, wie indieclassical oder Blockflöten-Schlagzeug-Duo?
Die zwei genannten Beispiele sind einfach Strömungen neuer Kunstmusik, einmal wirre Experimentalbesetzung (Blockflöte-Schlagzeug) und einmal eine sehr spannende und erfolgreiche Aufführungs- und Kompositionskultur aus den USA (indie classical). Wir wollen beweisen, dass zeitgenössische Strömungen eben nicht in Neue Musik Ghettos (Darmstadt, Donaueschingen etc) abgeschoben werden müssen, sondern tatsächlich ganz natürlich direkt neben Brahms und Haydn in einem informellen Rahmen platziert werden können – mit großem Erfolg.

Was sind für Sie die Kriterien eines guten Konzertprogramms? Oder anders gefragt: Was muss ein Programm erfüllen, damit es eine Chance hat, beim Podium Festival aufgenommen zu werden?
Wir wollen mit jedem Konzert herausfordern und überraschen. Oft streben wir synästhetische Erlebnisse an. Die Erfahrung von Musik ist als wohl abstrakteste Kunstform enorm an Umstände gebunden; unser musikalisches Erlebnis hängt von vielen Parametern ab. Also: das Licht, der Ort, die Zeit, die Dramaturgie, die Bestuhlung, die Story, die Publikumszusammensetzung, die Kombination mit Wort oder Bewegung, die inneren Programmbeziehungen und viele mehr… Wir versuchen, all diese Parameter aktiv zu gestalten und mit ihnen ein „Gesamterlebnis Konzert“ zu schaffen, das in sich schlüssig und rund (oder auch eckig) ist – ähnlich wie ein Kurator eine Ausstellung gestaltet. Dabei stellen wir auch die üblichen, recht langweiligen Auf- und Abtritt- sowie Applaus-Rituale in Frage und inszenieren stattdessen die Konzertsituation. Wer also einfach nur Sonaten in beliebiger Kombination abliefern will, passt hier nicht hinein.

Wie kommt das Festivalprogramm insgesamt zustande? 
In Absprache mit allen beteiligten Musikern entwerfe ich die Programme und Formate. Diese durchlaufen in unsere Teamsitzungen einen recht harten Realitätscheck, werden verfeinert oder ganz umgeschmissen. So entsteht das Gesamtprogramm, das den Anspruch hat, eine einzigartige Formatvielfalt für Kammermusik zu bieten.

Sind die Programme im Grunde nicht immer noch sehr im Modell des klassischen Konzerts verhaftet? Müsste das ganze Konzertwesen nicht viel radikaler auf den Kopf gestellt werden, zum Beispiel indem digitale Medien mit einbezogen werden, etwa durch Livestreams, Tweetups, Zuschauerbeteiligung bei der Programmplanung und der Berichterstattung und indem vor allem wirklich ganz neue klassische Musik geschrieben wird, die nicht nur in einer elitären Nische stattfindet?
Wer unsere Konzerte – vor allem in letzter Zeit – erlebt hat, weiß dass sie in ihrem Ablauf doch alles andere als „klassisch“ sind. Dabei sind wir für den schmalen Grad, auf dem wir uns bewegen, sehr sensibilisiert. Noch schlimmer als die zahllosen, uninspirierten Klassikveranstaltungen in Beerdigungsstimmung finde ich die zunehmenden Versuche, eine Art „Klassik light“ zu entwickelt. Diese Musik ist komplex und oft in ihrer Intensität anstrengend – anderes zu behaupten ist Etikettenschwindel, der die Musik verrät. Als Veranstalter müssen wir Situationen komponieren, in dem das Publikum sich wohlfühlt und wirklich hören kann. Erlangen wir Situationen dieser „Offenohrigkeit“, so kann das Publikum fliegen lernen. Nur diesen ungeheuren „Aha-Momenten“, die ein Zuhörer nur unter Aussetzung der vollen Wucht musikalischen Inhalte erlebt, verdanken wir unseren Erfolg – denn das Publikum sehnt sich danach. Wir müssen nach wie vor hoch zur Musik, und nicht die Musik hinunter zu uns.
Die Institution PODIUM ist durchsetzt von interaktiven und partizipativen Ansätzen. Wir sehen uns als ein Community Festival klassischer Musik, sind sehr Socia Media-affin und denken viel darüber nach, wie die Kulturinstitution 2.0 aussehen kann. Auch das Programm kann und soll zunehmend unter Mitwirkung der Community entstehen. Was das Konzerterlebnis selbst angeht, so empfinde ich es trotz aller Innovationen als sehr analog, es geht um die Musik und die Performance. Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dass ein twitter-livestream der Bach Partita etwas Erhellendes zufügen kann. Was nicht heißt, dass wir dergleichen nicht einmal probieren wollen.

Gibt es eine unternehmerische Vision für das Podium Festival? Wenn ja, wie sieht sie aus? 
Wir sind gerade dabei, den gegenwärtigen Verein in eine operative Stiftung zu überführen. Dies wird die stabile, dauerhafte Basis, von der aus das „Projekt PODIUM“ weitergeht. Daher der Businessplan. Das Esslinger PODIUM Festival bleibt das Flaggschiff, aber längst nicht die einzige Unternehmung. Unter anderem soll auch das große Thema Oper demnächst angegangen werden. Und nicht zuletzt wollen wir mit der PODIUM.Academy eine Plattform für den Wissens- und Kompetenztransfer aufbauen. Was hier beispielhaft entstand, soll an vielen Orten geschehen. Genau zu diesem Zweck entwickelt sich unser PODIUM.Network gerade mit Initiativen in Norwegen, Polen, Island und Österreich prima. PODIUM soll eine offene Ressource für die Kulturinnovation sein. Die unternehmerische Vision ist also zugleich die kulturelle Vision:

Wie sehen Sie die Entwicklung der Klassikszene insgesamt. Wagen Sie eine Prognose, wie die Konzertlandschaft in Deutschland sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren ändern wird oder zumindest ändern sollte?
Ich bin der Überzeugung, dass wir notwendigerweise eine Pluralisierung des klassischen Konzertwesens erleben werden. Meine Hoffnung ist, dass diese sehr zu begrüßende Formatvielfalt nicht auf Kosten einer Qualitätsminderung von statten geht. Zu wünschen wäre also, dass viel mehr klassische Musiker sich unternehmerisch betätigen – also ihre ursprüngliche Funktion als Musikermöglicher wahrnehmen – und sich nicht weiter nur auf die nicht gerade stabile Hochkultur-Infrastruktur ausruhen. Gemeinsam mit dem Kulturmanagement gibt es zahlreiche neue, viel versprechende Wege zu gehen. Ob man das nun gutheißt oder nicht: wir werden wohl eine teilweise Privatisierung sowohl der Finanzierung als auch der Trägerschaft von klassischen Musikinstitutionen erleben. Ich hoffe sehr, dass die Kulturpolitik diesen Wandel aktiv mitgestalten will und notfalls bereit ist, dafür einige heilige Kühe, die auf gestrige Kunstwiesen grasen, zu schlachten. Für uns Musiker bleibt weiterhin das große Glück, mit einer unglaublich vielseitigen und wertvollen Materie zu arbeiten. Wir haben also wahrlich kein „Produkt Problem“. Es kommt nur darauf an, was wir daraus machen…


1 Kommentar

willi sailer · 6. November 2012 um 21:04

Diese Einstellung zur klassischen Musik gefällt mir sehr. Mir gefällt diese Musik, hatte aber immer Probleme mit den exklusiven Darbietungsorten, wo Kleidung und Statussymbole mich immer ins Abseits drängen, Steven, mach weiter so mit Deinen „Musikanten“.

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