Mind the gap: Unternehmensethischer Anspruch und Realität an Theatern

Veröffentlicht von Christian Holst am

Auf Postdramatiker wurde gerade eine wissenschaftliche Arbeit rezensiert, die sich mit Unternehmensethik im Kulturbetrieb, speziell in Theatern, beschäftigt. Der Autor Daniel Ris hat dazu u.a. eine Reihe von Theater-Intendanten befragt, wie sie es mit dieser Frage an ihrem Haus halten. Eine zentrale Erkenntnis aus diesen Interviews ist, das fast ausnahmslos ein krasser Widerspruch besteht zwischen dem ethischen Anspruch, der auf der Bühne formuliert wird – Stichwort: Theater als moralische Anstalt – und der Realität, die in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Organisationsstruktur etc. gelebt wird. Diese Erkenntnis ist eigentlich nicht so erstaunlich. Erstaunlich ist eher, dass dieser Widerspruch praktisch allen befragten Intendanten bewusst zu sein scheint. Trotzdem stellt offenbar keiner Überlegungen an, wie sein Betrieb diesbezüglich zu modernisieren wäre, sondern zieht sich auf das intelligenten Menschen eigentlich nicht würdige Argument zurück, es gehe halt nicht anders, die Qualität des Theaters würde sonst darunter leiden. Dabei liegt der Gedanke auf der Hand, dass der Bedeutungsverlust der Theater in der gesellschaftlichen Debatte und in Bezug auf künstlerische Innovation genau damit zu tun haben könnte, dass seit dem 19. Jahrhundert insgesamt kaum eine Innovation Einzug in die Theater gehalten hat. Es muss also anders gehen, wenn es überhaupt weitergehen soll. Denn dieser Widerspruch kostet das Theater seine Glaubwürdigkeit.
Ich habe vor längerem Mal darüber geschrieben, dass es heute kaum Organisationen gibt, die sich so umfassend der Modernisierung verweigert haben, wie ausgerechnet Theater. Das Theater ist ein Museum für alte Handwerksberufe wie z. B. den Hut- oder Perückenmacher. In kaum sonst einer Einrichtung ist der Leiter mit so umfassenden, im wörtlichen Sinne feudal(istisch)en Kompetenzen ausgestattet wie im Theater. Der Normalvertrag Bühne, mit dem Solo-Künstler an einem Theater saisonweise beschäftigt werden, ist etwas plakativ gesagt eine moderne Form einer feudalistischen Verfügungsbefugnis: Er folgt nicht der Idee von Leistung und Gegenleistung, wie ein normaler Dienst- oder Werkvertrag, sondern sichert dem Arbeitnehmer lediglich feste Pausenzeiten zu. Auch die Bezahlung von Solo-Künstlern ist in etwa so schlecht, als hätte es seit 1850 keinen Inflationsausgleich mehr gegeben.
Angesichts dieser und zahlloser anderer struktureller, organisatorischer, künstlerischer, technologischer Anachronismen wundere ich mich immer wieder, wie das Theater das Selbstbild eines gesellschaftskritischen «Agendasetters» aufrecht erhalten kann.


1 Kommentar

kulturblog.net – Toi toi toi – Aberglaube im Dienst der Aufklärung · 11. Oktober 2012 um 19:15

[…] meiner Lieblingsthemen in diesem Blog ist ja der Widerspruch des Theaters, einerseits aufklärerisches Forum und Demokratieschule sein zu […]

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