Wagners Ring: Hollywood avant la lettre

Veröffentlicht von Christian Holst am

Klaus Zehelein ließ kürzlich verlauten, dass er es für das beste hielte, man würde den Ring des Nibelungen im bevorstehenden Wagner-Jahr 2013 gar nicht spielen. Entgegen diesem Vorschlag sind in dieser und der nächsten Spielzeit ein Dutzend neuer Inszenierungen an deutschen Bühnen in Arbeit. Selbstverständlich auch in Bayreuth, wo nach einer Absage von Wim Wenders jetzt Frank Castorf Regie führen soll. Dass in Bayreuth oder anderswo viel Nennenswertes dabei zu Tage kommen wird, bezweifle ich wie Zehelein, der den Ring für interpretativ ausgeschöpft hält. Wobei: Lohnenswert wäre es in meinen Augen, eine musikalisch wie szenisch „historisch informierte“ Aufführung des Rings zu versuchen. Das heißt, so gut es eben möglich ist, die Bedingungen und Vorstellungen einer guten Aufführung aus der Entstehungszeit herzustellen. Die Alte-Musik-Spezialisten haben gezeigt, welche Aha-Erlebnisse solch ein Ansatz im musikalischen Bereich mit sich bringen kann und für Inszenierungen wäre es mal eine echte Sensation.
Und wenn sich ein Komponist bzw. Dichter für solch einen Ansatz eignet, dann Wagner mit seinem expliziten Theaterverständnis. Einem Theaterverständnis übrigens, das viel mehr mit dem multimedialen Kinoerlebnis unserer Zeit zu tun hat, als mit heutiger Theaterpraxis und -ästhetik. Der Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler sprach in Bezug auf Wagners Theater etwas flapsig von einem „Hollywood avant la lettre“ – Hollywood vor dem Begriff. Und tatsächlich sind Wagners theoretischen Schriften oftmals sehr sperrig zu lesen, weil er dort versucht, eine Art multimediales Kinoerlebnis zu beschreiben, dass er noch gar nicht kannte und für dessen Beschreibung ihm dementsprechend in gewisser Weise auch die Worte fehlten, was er mit extra vielen Worten wett zu machen suchte. Mit solch einem historisch informierten Aufführungskonzept würde Wagner also wahrscheinlich viel weniger als Verfechter einer staubigen, deutschtümelnden Ideologie und piefigen 19.-Jhd.-Ästhetik erscheinen, als viel mehr als visionärer Vordenker für komplexe Erzählwelten und -infrastrukturen des 21. Jahrhunderts, die keinen Aufwand scheuen, um die perfekte Illusion zu erzielen. Meine Güte, diese Erkenntnis wäre ja endlich mal ein echter Fortschritt in der Wagner-Rezeption!


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