Schwindsucht statt Infarkt: Orchestersterben

Veröffentlicht von Christian Holst am

Wer die Meldungen zur Lage deutscher Sinfonieorchester verfolgt, ist geneigt, eher von Schwindsucht als von Infarkt zu sprechen. Dass es in Deutschland keine «Kultur des Aufhörens» gäbe, davon kann in Bezug auf die Sinfonieorchester keine Rede sein. Höchstens, dass das Aufhören kulturlos betrieben wird, sprich ohne kulturpolitisches Konzept. Von den 168 Orchestern, die 1992 existierten, gibt es heute noch 132 – etwa 25% weniger.
Aktuell sind die Orchester in Duisburg, Baden-Baden/Freiburg, Stuttgart und Remscheid/Solingen von der Schließung bedroht. Die beiden SWR-Orchester haben – wohl dank ihres künstlerischen Renommees – auf der Seite orchesterretter.de immerhin rund 22.000 Unterschriften gegen eine Schließung gesammelt. Von der schwäbischen Hausfrau bis zur internationalen Kulturgröße ist alles dabei. Die Duisburger Philharmoniker kommen auf immerhin 10.000 Unterschriften. Die schlagkräftige Community, die über das Social Media-Projekt dacapo aufgebaut und letztes Jahr kurzfristig herunter gefahren wurde, hätte vermutlich zwar nichts Grundlegendes an der schwierigen Situation des Orchesters geändert, aber doch wichtige Schützenhilfe leisten können. Für die Bergischen Symphoniker versuchen es die Remscheider Orchesterfreunde ebenfalls mit einer Petition, veröffentlichen die Zahl der erreichten Unterschriften allerdings (lieber?) nicht. Dass es hier schon mit einer einnehmenden Kommunikation mit der Fangemeinde hapert, auf die die Duisburger Philharmoniker beim Festhalten an dacapo hätten zurückgreifen können, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Website.
Auch wenn die Zahlen der Unterschriftenaktionen insgesamt durchaus ganz beeindruckend sind, steht zu befürchten, dass die Gegenwehr zu spät kommt. Bei anderen Orchestern, die noch nicht zur Debatte stehen, lässt sich eine gewisse Nervosität bemerken, die immerhin dazu führt, dass das Marketing aufgerüstet wird mit dem Ziel, speziell junge Zielgruppen zu erreichen und die Markenprofilierung zu schärfen und sich darüber unverzichtbar zu machen. Hier bedarf es nach meinem Eindruck aber noch der Erkenntnis, dass Marketing bei der Programmierung anfängt und ein Marketingverständnis, im Sinne reinen Absatzmarketings, zu kurz greift. Damit lässt sich nur kurz- und bestenfalls mittelfristig Abhilfe schaffen. Zwar bin ich nicht der Meinung, dass man das Konzert neu erfinden muss, um es zu erhalten, denn diese Neuerfindung hat längst stattgefunden. Aber eine programmatisch klug angestellte Öffnung gegenüber diesen Neuerfindungen kann sicher ein Schlüssel zu neuem Publikum sein. Klug angestellte Öffnung meint, dass die Verpackung nichts versprechen sollte, was der Inhalt nicht einlösen kann. (Siehe dazu meinen Blogbeitrag zum angeblichen Ende der klassischen Musik.)
Sehr langfristig gedacht, und daher vermutlich am wirksamsten, sind gute Education-Programme. Catherine Milliken, von 2005 bis 2011 Leiterin des Education-Programms der Berliner Philharmoniker, zeigte beim 4. Forum Kulturvermittlung von Pro Helvetia, dass diese Programme ihre Wirkung erst nach 20 bis 30 Jahren entfalten. Nämlich dann, wenn diejenigen, die als Kinder und Jugendliche über diese Programme erreicht wurden, an einflussreichen Stellen sitzen, an denen sie über den Fortbestand von Kultureinrichtungen mitzuentscheiden haben.


2 Kommentare

Frank Mrozek · 10. Mai 2012 um 12:49

Danke für diese für mich neuen Informationen und ihre differenzierte Analyse, Christian.
Sehr passend auch der Hinweis auf die Kurzsichtigkeit der Duisburger, ihre sorgsam aufgebaute Community so leichtfertig aufzugeben!
Wobei ich zu den Education-Programmen doch vermute, dass sie auch aktuell dazu beitragen, dass die Sammlung von Stimmen gegen die mögliche Schließung deutlich verstärkt wird durch (auch potentielle) Eltern (und deren Kreise), die auf die musische Bildung ihrer Kinder bedacht sind?

    Christian Holst · 10. Mai 2012 um 13:12

    Danke für den Kommentar, Frank. Dass die Education-Programme für zusätzliche Stimmen sorgen kann gut sein. Wobei sich hier ja auch die Frage aufdrängt, ob Kultureinrichtungen für die kulturelle Bildung zuständig oder nicht eher die Schulen. Dort fallen gerade die musischen Fächer dem Sparzwang oftmals als erstes zum Opfer.

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