Christian Holst

Kulturmanagement :: Digitale Transformation :: Künstliche Intelligenz


Autor: Christian Holst

  • Zum Lachen: Whatever works

    Eigentlich strotzt Addy Woollens Woody Allens neuer Film «Whatever works» nur so vor zwar vorhersehbaren, aber eigentlich an den Haaren herbeigezogenen Wendungen: Ein alter, einsamer Misanthtrop (Seinfeld-Erfinder Larry David) nimmt eine hübsche, junge, ziemlich naive Ausreißerin bei sich auf. Die beiden heiraten sogar. Irgendwann taucht deren äußerst fromme Mutter auf, die kürzlich von ihrem Mann verlassen wurde, wenig später der ebenso fromme, reuige Ehemann. Kaum der bigotten Enge ihres Provinzdorfs ins weltoffene New York entflohen, machen beide eine ganz erstaunliche Entwicklung durch. Nebenbei versucht die Mutter hartnäckig ihre verheiratete Tochter anderweitig zu verkuppeln. Am Schluss, und das ist ja irgendwie die Hauptsache, hat aber jeder irgendjemanden und man feiert zusammen Silvester.

    Es ist sicher nicht die Geschichte, die den Film so sehenswert macht. Es ist einerseits der typische Humor, andererseits der virtuose Umgang Woody Allens mit dem Medium Film, das ironische Spiel mit dramatischen Floskeln und Kniffen, der Metablick aufs Geschehen. Einmal mehr ein Beweis, dass die großen Dramatiker unserer Zeit nicht mehr für das Theater schreiben. Dabei eignet sich der Film mit wenigen Protagonisten und Schauplätzen perfekt für die Bühne und wird früher oder später sicher seinen Weg dorthin finden. Aber es eben doch erst einmal ein Film. Hier der deutsche Trailer zum Film:

  • Gründer der Liedergalerie wirft das Handtuch

    Vor einiger Zeit habe ich die Hamburger Liedergalerie als Best practice für beherztes Kulturunternehmertum vorgestellt. Was der Gründer Thomas Franke dort aufgebaut hat, dem gebührt wirklich großer Respekt. Jetzt gibt er entnervt auf und verlegt seine Aktivitäten ins Ausland. Dieser Schritt ist ebenso schade wie verständlich. Auf seiner Homepage destimo.de legt er ausführlich dar, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat: kurz gesagt die fehlende Unterstützung durch die Kulturpolitik, die ihm aus (allerdings plausiblen) haushaltsrechtlichen Gründen die Förderung verweigert. Auch wenn diese Entscheidung der Kulturpolitik nachvollziehbar ist, ist es doch kein Wunder, wenn nach jahrelangem Engagement dann nur noch Frust bei den Kulturschaffenden übrigbleibt.

    Ohne dass ich die Situation im Einzelnen kenne, scheint mir das Dilemma hier ein ganz typisches Problem öffentlicher Projektförderung zu sein: Die künstlerischen Ideen müssen zur Förderung passen, damit diese gewährt wird, nicht umgekehrt. Wer öffentliches Geld möchte, muss sich den Förderkriterien unterwerfen und einen eigenen kleinen Apparat beschäftigen, der die Erarbeitung dieser Kritierien, die Anpassung der Projektidee und die Einhaltung überwacht. Das führt dazu, dass die Ideen auf die Förderkriterien zurechtgestutzt werden und an deren Grenzen ihre eigenen finden. So behindert die Förderbürokratie die freie, kulturunternehmerische, kreative Entwicklung von Ideen, anstatt zu ihrer Realisierung beizutragen. Gerade innovativen Projekten wird es auf diese Weise schwer gemacht, an Geld zu kommen, denn es liegt in der Natur der Sache, dass sie dem Vorstellungsvermögen von Kulturbeamten und Förderverordnungen voraus sind. Nun geht es bei der Vergabe von öffentlichen Geldern natürlich nicht ohne eine gewisse Bürokratie, die überwacht, ob das Geld im Sinne der Steuerzahler und der kulturpolitischen Zielsetzungen verwendet wird. Die Kulturbehörde hat nicht die Möglichkeit, mit der Willkürlichkeit eines «Business Angels» in überzeugende Kulturprojekte zu investieren. Insofern frage ich mich, wie man dem Dilemma entkommt, Kulturförderung einerseits mit der Freiheit und dem unternehmerischen Geist eines «Business Angels» ausstatten zu wollen, sie andererseits aber freizuhalten von deren Renditeerwartungen. Denn Kulturprojekte werden sich in den seltensten Fällen so rentieren, wie es beispielsweise für ein Software-Startup in Aussicht steht.

    Ich könnte mir vorstellen, dass Crowdfunding-Mechanismen nach dem Vorbild von z.B. sellaband.de oder kachingle.com auch in der Offline-Welt als Vorbild für neue Finanzierungsmodelle herhalten könnten. Mir jedenfalls scheint, dass man die Energie, den Frust und die Nerven, die man in die Beantragung öffentlicher Fördergelder stecken muss, lieber in die Entwicklung solcher neuen Ansätze stecken sollte.

  • Hallelujah! – Der Messias als Weihnachtskonzertklassiker

    Im Dezember haben nicht nur Aufführungen des Weihnachtsoratoriums Hochkonjunktur, sondern auch von Händels Messias. Dabei kommt die Weihnachtsgeschichte hier nur im ersten Teil vor, der zweite handelt von der Passion und Auferstehung Jesu, der dritte von der Erlösung und der Überwindung des Todes. Der Messias könnte damit ebenso gut Alternativprogramm zu Ostern oder der Trauerzeit Ende November sein. Der letzte Teil basiert textlich zu grösseren Strecken auf Ausschnitten aus dem 1. Korintherbrief, die auch Brahms im sechsten Satz seines Deutschen Requiems vertonte («Tod, wo ist dein Stachel?» usw.). Wie auch immer, traditionell ist der Messias ein beliebtes Weihnachtsstück und es hat auch etwas für sich, schon die gesamte Geschichte in den Blick zu nehmen, die zu Weihnachten erst ihren Anfang nimmt.

    Glaubt man Stefan Zweigs rührseliger und nicht gerade authentischer Erzählung «Georg Friedrichs Händels Auferstehung» (Sternstunden der Menschheit), dann war Händel bis zu dem Moment in tiefste Depressionen versunken, bis er die ersten Textzeilen des Librettos las – «Comfort ye my people» – und das gesamte abendfüllende Werk wie in einem Rausch in nur drei Wochen zu Papier brachte:

    Das traf ihn zuinnerst. Tröstet! Nur dieses Wort: Schöpfungswort in sein zerschlagenes Leben hinein! Kaum hatte er es gelesen, dieses Wort gespürt, hörte er es als Musik: in Tönen schwebte es, rief es, sang es. Tore öffneten sich in seinem Inneren: – Er fühlte wieder, er hörte wieder.

    Literarisch mag das etwas hergeben, wobei man da sicher geteilter Meinung sein kann. In Wirklichkeit entstand der Messias, nach allem was man weiß, wesentlich profaner und das hohe Arbeitstempo legte Händel auch ohne spezielle Erweckungserlebnisse an den Tag, zumal er auf etliche alte Kompositionen zurückgriff. Außerdem ist ja eh nur entscheidend, was hinten rauskommt. Und das ist eine ganze Reihe schöner Ohrwürmer. Mein persönlicher Lieblingsohrwurm aus dem Messias ist die Arie «I know that my Redeemer liveth», die es in einer ausgesprochen schönen Interpretation von Sylvia McNair auf youtube zu sehen und vor allem zu hören gibt. (Leider lässt sich der Clip nicht einbetten.)

    Übrigens: Der Berner Kammerchor führt das Werk am 12. und 13. Dezember im Berner Münster auf. Wenn ich nicht terminlich verhindert wäre, würde ich nicht nur hingehen, sondern sogar mitsingen. 🙂

  • Twitteratur von Rick Moody

    Seit einigen Stunden wird bei @ElectricLit eine Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Rick Moody getwittert. Die Geschichte mit dem Titel «Some Contemporary Characters» gilt als erste Arbeit eines renommierten Schriftsteller, die explizit für Twitter geschrieben wurde und gehört damit in die junge literarische Gattung der «Twitter fiction». Es geht um die Beziehung einer jüngeren Frau (Ich-Erzählerin) mit einem älteren Mann. Die Geschichte besteht aus 153 Tweets, die von heute bis zum 2. Dezember tagsüber (EST) im 10-Minutentakt veröffentlicht werden. Das Spannende an dem Projekt ist sicher weniger, eine solch überschaubare Menge an Text über drei Tage verteilt zu lesen, sondern vor allem, wie sich die Bedingungen von Twitter in der künstlerischen Form niederschlagen. Der erste Tweet lautete zum Beispiel:

    Saw him on OKCupid. Agreed to meet. In his bio he said he had a “different conception of time.” And guess what? He didn’t show.

    Knapp und direkt in der Form, lakonisch und stark im Inhalt. Die Tweets sind einerseits anschlussfähig, müssen aber aufgrund des zerstreuenden, unverbindlichen Charakters des Micro-Bloggings auch für sich stehen können. «Es war, wie Haikus zu schreiben», sagt Moody. Aber nicht nur das Werk selbst ist auf Twitter ausgelegt, auch der Vertrieb ist es: Wen die Idee überzeugte, der konnte sich anmelden, um die Geschichte automatisiert über seinen Account co zu veröffentlichen.

  • Junge Tonhalle Düsseldorf (Best practice X)

    Wie die stART.09 war auch die junge Tonhalle Düsseldorf beim diesjährigen Kulturmarkenaward nominiert. Bei diesem Projekt des Intendanten Michael Becker handelt es sich um den offenbar ziemlich erfolgreichen Versuch, junge Leute in die altehrwürdige Tonhalle zu bekommen. Im Rahmen dieses Projekts gibt es daher verschiedene Veranstaltungsformate, die speziell auf die Ansprüche junger Konzertbesucher zugeschnitten sind. «Tonfrequenz» ist eine monatliche Party-Veranstaltung mit elektronischer Tanzmusik, «3-2-1-Ignition» ein multimediales Themenkonzert, «Big Bang» eine Reihe, in der junge Musiker ambitionierte Programme aufführen und der Eintritt nur 5 EUR beträgt und die Konzerte des Jugendorchesters der Jungen Tonhalle. Als einziges Konzerthaus Deutschlands hat die Tonhalle ein eigenes Jugendorchester. Wen dieses beispielhafte Projekt genauer interessiert, findet beim WDR Montalk ein ausführliches Gespräch mit Michael Becker, u.a. auch zu diesem Projekt. Wie es im Interview scheint, gelingt mit diesem Projekt der heikle Balanceakt zwischen echter Kundenorientierung bei gleichzeitig hohem künstlerischen Programm-Anspruch. In Ansätzen ist die Junge Tonhalle übrigens auch schon im Web 2.0 vernetzt, z.B. mit einigen Videoclips und einer Fanseite in Facebook.

  • Orianthi Panagaris: Mit Rock in eine Männerdomäne

    In der Musikwelt gibt es immer noch erstaunlich viele Männerdomänen. Zum Beispiel den Job des Dirigenten. Mittlerweile gibt es zwar einige Dirigentinnen, aber sie sind immer noch eine Ausnahme. Noch schlimmer ist es bei den Rockgitarristen. Die Rockgitaristinnen der letzten Jahrzehnte, die Bekanntheit über eine kleine Nische hinaus erlangt haben, dürfte man an einer Hand abzählen können, wenn man da überhaupt etwas zu zählen hat. Mir fällt gerade keine ein. Außer Orianthi Panagaris, die von Michael Jackson für dessen «This Is It»-Konzerte gecastet worden war. Zu den Konzerten kam es bekanntermaßen nicht, wohl aber zu einem Film, der Ende Oktober in die Kinos kam. Im Windschatten dieses Films veröffentliche Panagaris ihr zweites, nach einem ersten oberflächlichen Eindruck von der myspace-Seite her, eher langweiliges Album «Believe». Zwar kann sie sowohl singen, als auch Gitarre spielen, aber die Songs sind nach meinem Eindruck auf ein höchst unspektakuläres Durchschnitts-Radiosong-Format gestutzt. Das ist etwas schade, denn dass Panagaris etwas drauf hat, ist unschwer zu erkennen:

  • Brecht als Vordenker eines kapitalistischen Heilsversprechens

    Jede Erfindung braucht einen Mutigen der sie vordenkt. Beim Podcasting scheint das Bertolt Brecht gewesen zu sein. Ende der 1920er Jahre schrieb er:

    Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.

    Dank der Vergesellschaftung der Medien, die mit deren Digitalisierung möglich geworden ist, machen die Medien heute auch denjenigen sprechen, der vormals die passive Hörerrolle einnahm. Jeder Hörer ist damit zum potenziellen Lieferanten geworden. Interessant ist dabei auch, dass Brecht nicht nur technische Vorstellungen beschrieb, die heute durch das Podcasting weitgehend erfüllt werden, sondern dass er dabei auch an die positiven kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen dachte, die heute dem partizipativen Web zugeschrieben werden: Das neue Medium gibt jedem Einzelnen eine Stimme, ermöglicht eine neue Kultur der Meinungsfreiheit, stärkt die Demokratisierung und neue Formen gesellschaftlicher Zusammenarbeit und ist geeignet, alte hierarchische oder gar totalitäre (Kommunikations-)Strukturen zu untergraben. Brecht dachte damit vor dem Hintergrund seiner sozialistischen Überzeugungen eine Entwicklung voraus, die heute als «Heilsversprechen des Kapitalismus» Realität geworden ist. Das ist nicht ohne Ironie.

  • Ein Buch namens Zimbo

    Max Goldt hat ein neues Buch veröffentlicht. Es enthält eine Sammlung einiger Titanic-Kolumnen sowie die Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises. Bislang habe ich noch jedes Buch von Max Goldt verschlungen, aber diesmal ist der Funke irgendwie nicht rübergesprungen.

    In einer Rezension des Hessischen Rundfunks heißt es: «… der Schreibstil wird dann zum eigentlichen Bedeutungsträger.» Da ist was dran und wahrscheinlich hat mich das diesmal – zum ersten Mal – gestört. Im Vorgänger-Buch Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens, so war mein Eindruck, gab es eine Reihe von Texten, in denen Goldt Stellung zu mehr oder wenigen aktuellen Problemen oder Fragen bezog und die sich tendenziell von der assoziativen Kolumne zu einer eher ernsthaften, gründlich reflektierenden essayistischen Form entwickelt hatten. Diesmal scheint’s mir wieder in die andere Richtung zu gehen und kaum über eine Reminiszenz an alte Texte und Bücher hinauszugehen. Den Texten fehlt das überraschende Moment und die sinnfälligen Aufhänger.

    Vielleicht aber gibt es ja auch ein Max Goldt-Alter, aus dem ich jetzt einfach raus bin? In seinen Lesungen sitzen wirklich immer 90% Studenten.

  • Internet als neues Heilsversprechen des Kapitalismus?!

    In der wirklich empfehlenswerten Sendereihe Fragen an den Autor vom Saarländischen Rundfunk hörte ich vor kurzem ein Interview mit Susanne Gaschke über ihr Buch «Klick – Strategien gegen die digitale Verdummung». Grob gesagt lautet das Fazit: Wenn digitale Medien aufgrund unbestreitbarer Vorteile ergänzend eingesetzt werden ist das ok, wenn sie andere Aktivitäten verdrängen ist das problematisch. Da schimmern natürlich auch gewisse Vorbehalte einer Print-Journalistin mit durch, aber das macht diese Aussage ja noch nicht falsch. Wirklich interessant fand ich insbesondere einen Gedanken, den Gaschke ganz am Anfang der Sendung formulierte. Und zwar meinte sie, die sozialen Web-Medien seien das neue Heilsversprechen des Kapitalismus bzw. Neoliberalismus. Ihr Argument: Im Kontrast zum real existierenden Sozialismus lag das Heilsversprechen des Kapitalismus bis Ende der 80er stets auf der Hand. Diese Kontrastfolie Sozialismus gibt es seit einiger Zeit nicht mehr, weswegen der Kapitalismus, insbesondere in der aggressiv vorgetragenen Form des Neoliberalismus in den letzten Jahren in die Kritik geraten ist. Also wird die rasante und kapitalistisch getriebene Entwicklung des Internets zur Sozialutopie überhöht und das Netz zu einem demokratisierenden, völkervereinenden Instrument hochgejubelt: Jeder kann seine Meinung frei äußern, in unmittelbaren Kontakt mit Menschen auf der anderen Seite der Erde treten, grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird möglich, Diktaturen erzittern vor seiner umstürzlerischen Kraft, in Wikipedia kumuliert sich die überschaubare Klugheit Einzelner zu einer enormen Weisheit der Massen usw. usf. Und all das hervorgegangen aus dem Geiste eines entfesselten, angelsächsisch geprägten Unternehmertums. Das ist ein interessanter Gedanke, denn etliche Prinzipien der sozialen Medien stehen tatsächlich erstmal im Gegensatz zu den Prinzipien des Kapitalismus, vor allem was Vorstellungen über Besitz und Eigentum und damit auch Verwertungs- und Kapitalisierungsrechte angeht. Auf er anderen Seite scheint das Internet die ideale Gelddruckmaschine zu sein, wenn man das richtige Geschäftsmodell gefunden hat. So schnell wie Google hat wahrscheinlich noch kein Weltkonzert zuvor derartige Marktmacht aufgebaut.

  • Kunst und Kultur: Nicht für alle da

    Christian Henner-Fehr fragte kürzlich «Heißt Ihre Zielgruppe ‹alle›?» und thematisierte damit den oft formulierten Anspruch von Hochkultureinrichtungen, für alle Bevölkerungsgruppen da sein zu wollen. Projekte wie «Oper für alle» oder Scheinanglizismen wie Public Viewing bezeichnen die Aktivitäten, die diesem Anspruch Rechnung tragen sollen. Für Christian Henner-Fehr ist schnell klar, dass es sich dabei höchstens um einen kulturpolitischen Vorsatz handeln kann, als Marketingstrategie jedoch zwangsläufig scheitern muss, weil «alle» als Zielgruppe zu unspezifisch sind und der Marketingaufwand ins Unermessliche wachsen müsste, wenn man mit dieser Strategie Erfolg haben wollte.

    Meines Erachtens geht es sogar noch einen Schritt weiter. Denn Marketing heißt nicht nur die Auswahl und Definition bestimmter Zielgruppen, sondern auch die gezielte Ausgrenzung von Zielgruppen, die man eben gerade nicht erreichen möchte. «Kick out the wrong customers» besagt eine saloppe Formel. Das klingt zunächst politisch ziemlich unkorrekt, aber die Probleme der Marken Lonsdale und Fred Perry machen beispielhaft deutlich, worum es dabei geht. Denn beide Marken kämpften jahrelang mit dem Image, Neonazi-Marken zu sein. Aus diesem Grund richteten sie ihr Marketing gezielt so aus, dass sie für diese Kundengruppe unattraktiv wurden, z.B. indem Lonsdale den Christopher-Street-Day in Köln sponserte und mit dem Spruch warb «Lonsdale loves all colours».

    Bei öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen ist ein Ansatz a la «Kick out the wrong customers» wesentlich problematischer, schließlich sollte das Steuergeld, das dort ausgegeben wird, allen zugute kommen. Dennoch wäre es illusorisch zu glauben, dass hier keine Selektionsprinzipien greifen würden. Sie greifen einfach subtiler. Durch die Auswahl von Kunstwerken und Künstlern, durch die Art, wie der Diskurs über das kulturelle Erbe geführt wird und die Art, wie der ästhetische Anspruch formuliert und realisiert wird findet aktive Ausgrenzung statt. Durch die Art der sozialen Begegnung, Lage, Erscheinungsbild und Einrichtung der Räumlichkeiten usw. kommen weitere Ausgrenzungsfaktoren hinzu, die auf den überwiegenden Teil der Bevölkerung höchst abschreckend wirken: Ins Theater gehen beispielsweise etwa nur 4-6% der Bevölkerung, weihnachtliche Familienbesuche der «Zauberflöte» und des «Zauberers von Oz» eingerechnet. Der Vorteil dieser subtilen Art der Ausgrenzung ist, dass man explizit den gegenteiligen Anspruch behaupten kann. Wobei auch das nicht immer der Fall ist: Gerade haben eine Reihe von Kultureinrichtungen in einer größeren Schweizer Stadt Vergünstigungen gekappt, die den Besucherkreis zunächst erfolgreich erweitert und vergrößert haben. Der Grund: man wollte nicht mehr jeden Hans und Franz als Besucher haben, die einmal kommen und sich dann nie wieder blicken lassen.

    Wie immer man das beurteilt glaube ich, dass der Anspruch, Hochkultur sei für alle, ein sozialromantisches Lippenbekenntnis ist, das nicht funktioniert weil es nicht funktionieren kann. Die Frage, ob Kultur für alle ist oder nicht, ist in meinen Augen weder eine Frage des Kulturmarketings, noch der Kulturpolitik, sondern vor allem der kulturellen Bildung. Denn nur die ermöglicht den nachhaltigen Zugang und ein dauerhaftes Interesse.